Mona Lisa Overdrive
seinem Kopf detonieren ließ.
Molly ist ebenso wie Mona SINlos, von Geburt an nicht gemeldet, trotzdem kreisen um
ihren/ihre Namen Galaxien von Verdächtigungen, Gerüchten und widersprüchlichen Daten. Als Straßengirl, Prostituierte, Leibwächterin, Mörderin verkehrt sie in den vielfältigen Ebenen, wo Helden und Bösewichter ihre Schatten werfen, deren Namen Angie nichts sagen, obwohl ihre Spuren längst mit der globalen Kultur verflochten sind. (Auch dies hat 3Jane gehört und gehört nun Angie.)
Molly hat eben einen Mann getötet, hat ihm ein explosives Flechette in den Hals gejagt. Sein Sturz gegen ein Stahlgeländer, das Materialermüdung zeigt, hat bewirkt, daß ein Großteil des Laufstegs eingestürzt ist. Dieses Zimmer hat keinen anderen Eingang, was von strategischer Bedeutung ist. Es war wohl nicht Mollys Absicht, den Steg zum Einsturz zu bringen. Sie wollte nur verhindern, daß der Mann, ein angedungener Mietling, von der Waffe seiner Wahl, einer kurzen Schrotflinte aus einer Legierung mit schwarzer, nicht reflektierender Oberflächenbeschichtung, Gebrauch machte. Dennoch ist Gentrys Dachkammer jetzt völlig
isoliert.
Angie versteht, warum Molly so wichtig ist für 3Jane, warum sie sie haben will und woher ihr Haß kommt; das Wissen darum läßt sie erkennen, wie banal das Böse im Menschen ist.
Angie sieht Molly durch ein graues, winterliches London hetzen mit einem jungen Mädchen —
und weiß, ohne zu wissen, woher, daß nämliches Mädchen sich gerade in 23 Margate Road, SW2
aufhält. &RQWLQXLW\" Der Vater des Mädchens war seither der Boss von Swain, der neuerdings in die Dienste von 3Jane übergetreten ist, um die Informationen zu bekommen, die sie dem gibt, der ihren Willen ausführt. Wie auch Robin Lanier, der allerdings hofft, in anderer Weise entlohnt zu werden.
Für das Mädchen Mona empfindet Angie eigenartige Sympathie, Mitleid, auch Neid: obwohl
Mona in ihrem Äußeren Angie weitestgehend angeglichen worden ist, hat Monas Leben
praktisch keinerlei Spuren hinterlassen im allgemeinen Gefüge und verkörpert in Legbas System praktisch die reine Unschuld.
Cherry-Lee Chesterfield umgibt klägliches, abgehacktes Geschreibsel, ihr Datenprofil gleicht einer Kinderzeichnung; Eintragungen über Landstreicherei, kleine Schulden, eine vermasselte Karriere als medizinisch-technische Assistentin Stufe 6, dazu Geburtsangaben und SIN.
Slick oder Slick Henry gehört zu den SINlosen, aber 3Jane, Continuity, Bobby, alle interessieren sie sich brennend für ihn. 3Jane zieht ihn als Parallele, als entfernter Leidensgenosse heran: sie vergleicht seine ständige rituelle Bastelei, sein Abreagieren der chemischen Keule mit ihrem eigenen Scheitern darin, den öden Traum von Tessier-Ashpool zu verbannen. In den Korridoren von 3Janes Gedächtnis ist Angie oft auf die Kammer gestoßen, wo ein Manipulator mit spinnenartigen Greifern den Schutt von Straylights kurzer, ereignisreicher Geschichte aufrührt — ein ewiges Werk der Collage. Und Bobby liefert weitere Erinnerung, die dem Künstler entzogen worden sind, als er 3Janes baylonische Bibliothek durchforscht hat: sein träges, trauriges, kindisches Wirken im sogenannten Dog Solitude, wo er Schmerz und Erinnerung von neuem Gestalt verleiht.
Drunten auf dem kalten, dunklen Boden der Fabrik trennt eine von Slicks kinetischen Skulpturen, die ein Unterprogramm von Bobby steuert, einem weiteren Söldner den linken Arm ab, wobei sie sich einer Vorrichtung bedient, die vor zwei Sommern von einer Erntemaschine aus chinesischer Fabrikation gewonnen worden ist. Der Söldner, dessen Geburtsdaten und SIN wie flüssige Silberperlen an Angie vorübersprudeln, stirbt mit der Wange auf Little Birds Stiefel.
Nur Bobby ist von allen Anwesenden nicht in Form von Daten vertreten. Und Bobby ist weder das Bild des Elends vor ihr, das da in Alu und Nylon gefesselt liegt mit angetrockneter Kotze am Kinn, noch das aufgeweckte, vertraute Gesicht, das ihr aus dem Monitor auf Gentrys Werkbank entgegenschaut. Ist Bobby der viereckige Massenspeicher, der auf der Bahre steckt?
Jetzt schreitet sie durch sanft gewellte Dünen aus beschmutztem pink Satin unter einem
künstlichen Stahlhimmel, endlich befreit vom Zimmer und seinen Daten.
Brigitte geht neben ihr, und da ist kein Druck, keine Leere der Nacht, kein Bienenstockbrummen.
Da sind keine Kerzen. Continuity ist auch da, verkörpert durch ein wandelndes
Flittersilbergekritzel, das sie irgendwie an Hilton Swift auf dem Strand
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