Mond der verlorenen Seelen
und enttäuscht, was Amber bedauerte, aber verstand. Sie mochte Beth, die es im Leben nicht immer leicht gehabt hatte. Beth war auch Studentin auf der Westhighland-University gewesen, auf der sie und Amber sich kennengelernt hatten. Selbst als Beth von Gealach nach Edinburgh zog, schrieben sie sich regelmäßig.
Amber ging zum Telefon, das sich neben der breiten Treppe mit den aufwendig gedrechselten Geländern befand, die zum Obergeschoss führte. Dort oben im Schlafzimmer hätte sie sich jetzt liebend gern in Aidans Arme geschmiegt. Seufzend tippte sie Beths Telefonnummer ein und legte sich die passenden Worte zurecht. Nach dreimaligem Freizeichen schaltete sich die Mailbox ein. Bestimmt probte Beth wieder auf der Bühne. Amber hinterließ eine Nachricht und bat um Rückruf. Sie gähnte und reckte ihre Glieder. Sie hasste es, jeden Abend auf Aidans Rückkehr warten zu müssen. Die Zeit wollte nicht vergehen, und gerade heute sehnte sie sich besonders nach seiner Nähe. Außerdem blieb sie nicht gern allein in diesem Trakt des Schlosses. Der Geist Gordon Macfarlanes schien in diesen Räumen noch immer zu wohnen. Sie musste hier raus.
Amber beschloss, Mom und Kevin einen Besuch abzustatten, um der düsteren Atmosphäre zu entfliehen. Sie ging durch den Wehrgang, der beide Wohntrakte miteinander verband. Draußen wehte noch immer ein frischer Wind, und dunkle Wolken fegten wie schwarze Schleier über den Himmel. Sie spähte durch die Schießscharten nach unten. Nicht weit entfernt lag Loch Gealach, genauso schwarz wie seine Geschichte.
Plötzlich nahm Amber unter sich eine Bewegung wahr. Eine Gestalt in brauner Kutte lief im fahlen Licht der Laternen geduckt an der Schlossmauer entlang. Der Geruch frischen Blutes stieg Amber in die Nase, als würde man ein Tier schlachten. Es bereitete ihr Übelkeit. Entsetzen packte sie bei der Vorstellung, die geheimen Treffen des Druidenclans und ihre blutigen Rituale konnten sich fortsetzen. Verließ Aidan jeden Abend das Schloss, um in die Fußstapfen seines Vaters zu treten? Wurden die geheimen, okkulten Treffen im Turmm fortgeführt, vielleicht sogar mit Folterungen, bei denen er das Blut der Opfer trank? Ein Schauder rann ihren Rücken hinab. „Bitte, lass das nicht wahr sein“, flüsterte sie und beobachtete den Kuttenträger, der an der Mauer weiterhuschte und nun hinter einer der vier Türen auf der unbewohnten Nordseite des Schlosses verschwand, die zum Folterturm führten.
Ihres Wissens nach besaß nur Aidan die Schlüssel zum Turm. Sie wollte der Sache nachgehen, musste wissen, ob sich ihre Vermutung bestätigte, und schlich ins Schloss zurück. Irgendjemand musste diesem Treiben rechtzeitig ein Ende setzen, bevor Schlimmeres geschah.
Wenig später stand sie vor der massiven Holztür, die nur angelehnt war. Vorsichtig stieß sie diese auf und lugte hinein. Das Knarren der Tür ließ Amber zusammenzucken. Sie unterdrückte einen Fluch. Angestrengt lauschte sie in die Dunkelheit und hörte nichts außer ihrem eigenen Atem. Der Kuttenträger konnte nur die Treppen hinaufgestiegen sein, denn der einzige Raum im Turm lag etliche Stockwerke über ihr. Langsam wagte sie sich weiter vor. Drinnen war es stockdunkel, nicht eine der Fackeln, die in den eisernen Wandhaltern steckten, brannte. Mit den Händen ertastete sie die unebene Mauer. Als ihre Finger das kalte Gestein berührten, drängten sich ihr erneut Bilder auf, wie am Nachmittag, als sie den Zweig in den Händen gehalten hatte, nur war es diesmal noch intensiver, beängstigender. Momentaufnahmen von Folterungen, und sie hörte das qualvolle Gebrüll der Opfer. Bilder des Grauens, in denen der Tod unbarmherzig seine Sense schwang. Ruckartig zog sie ihre Hände zurück. Es dauerte einen Moment, bis das durch die Visionen ausgelöste Schwindelgefühl nachließ.
Sie stieg die steinerne Wendeltreppe empor, und verharrte, reckte ihren Kopf und erkannte am Ende der Treppe einen schwachen Lichtschein. Die Folterkammer! Deutlich spürte sie die Schatten hinter sich, die sie die Treppe hinaufbegleiteten, spürte ihre Kälte und Verzweiflung, die sie mit jedem Schritt tiefer durchdrangen und den bitteren Geschmack des Todes hinterließen. Die Stufen schienen kein Ende zu nehmen und ließen ihre überbeanspruchten Waden krampfen. Endlich erreichte sie die Folterkammer. Sie rang nach Atem, ihr Herz pochte wie verrückt, und sie presste den Rücken gegen die Mauer.
Fackeln warfen gespenstische Schatten an die zerklüfteten
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