Mondberge - Ein Afrika-Thriller
Menschen. Sie sind die Seelen verstorbener Familienmitglieder. Ihre Aufgabe ist es, uns vor den Gefahren des Lebens zu bewahren. Aber es gibt auch die Totengeister, die Ebirimu, die zu den Menschen zurückkehren, wenn ein Toter nicht richtig begraben wurde oder wenn jemand unschuldig gestorben ist.«
Andrea hörte ihm gespannt zu, während sie aus den Augenwinkeln Tom beobachtete, der bei Nzanzus Worten skeptisch die Nase rümpfte.
»Einmal bin ich einem Ebirimu begegnet.«
»Und was ist geschehen?«, wollte Andrea wissen.
Nzanzu betrachtete sie eine Weile schweigend, dann fuhr er mit leiser Stimme fort: »Mitten in der Nacht bin ich von einem lauten Weinen und Schreien erwacht. Als ich aus meiner Hütte blickte, habe ich den Geist gesehen. Er war von einem Funkenregen umgeben, hat wild um sich geschlagen, geschrien und das gesamte Dorf geweckt.« Nzanzus Blick glitt für einen Moment in die Ferne. »In derselben Nacht ist meine Mutter gestorben.«
Andrea war blass geworden. Sie hatte mit Faszination von diesen Geistern der Mondberge gelesen, doch jetzt schauderte es sie. Dabei waren sie erst am Fuß der Berge, der Heimat dieser Geister. Tom lachte glucksend, als er ihren ängstlichen Gesichtsausdruck sah. Andrea senkte ärgerlich den Kopf.
»Besonders diejenigen, die den Glauben an die Geister weit von sich weisen, werden gerne von ihnen heimgesucht«, sagte Nzanzu mit ruhiger Stimme. Die Haare auf Andreas Unterarmen stellten sich auf.
Als die Runde sich eine halbe Stunde später auflöste, bezog jeder einen eigenen Raum in der Hüttenzeile. Andrea ergatterte das Zimmer, das den Toiletten am nächsten lag. Der Strom wurde nach zweiundzwanzig Uhr abgestellt. Daher wollte sie sich ihren Weg so kurz wie möglich gestalten, falls sie nachts mit der Stirnlampe noch mal raus müsste.
Das Zimmer war einfach eingerichtet. Ein Bett, ein Sessel und eine wackelige Kommode. Dies war der letzte Luxus, den sie für eine Weile erleben würde. Ab dem nächsten Morgen würde sie nur noch ihren Schlafsack für sich allein haben, den sie auf eine durchgelegene Matratze oder ein hartes Etagenbett in einer zugigen Hütte legen würde.
Nach dem Abendessen setzte Andrea sich etwas abseits auf das altersschwache Rattansofa am Rand der Terrasse. Die anderen unterhielten sich an den hohen Tischen über den nächsten Tag. Andrea beobachtete Peter aufmerksam. Der bemerkte sie nach einer Weile, blickte zu ihr herüber. Er zwinkerte ihr zu, zog die Stirn nachdenklich kraus, schien über etwas nachzudenken, schüttelte dann kurz den Kopf, und unterhielt sich weiter mit Tom. Andrea registrierte Peters Lächeln. Und wieder seine Augen.
Sie ging früh am Abend in ihr Zimmer, kroch unter dem Moskitonetz hindurch, setzte sich die Stirnlampe auf den Kopf und griff nach dem Reiseführer. Aber sie konnte sich nicht auf das Lesen konzentrieren. Sie legte das Buch zur Seite, sank in die Matratze und hörte, wie die anderen nach und nach ebenfalls schlafen gingen. Kurz darauf verlosch auch draußen das Licht. Andrea begann, sich ihrer Müdigkeit hinzugeben. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie für einen winzigen Moment einen Schatten vor dem Fenster. Als ob jemand versuchte, durch die Gardinen in ihr Zimmer zu spähen. Andrea war schlagartig hellwach und hielt den Atem an. Sie hob langsam den Kopf vom Kissen und lauschte. Da war ein unterdrücktes Atmen. Sie spürte ihren Herzschlag bis in den Hals. Die Türklinke senkte sich langsam mit einem leisen Quietschen. Panik stieg in ihr auf. Die Klinke hob sich wieder. Andrea hatte abgeschlossen. Aber wie sicher war die Tür? Halblaut rief sie »Hallo?« Sie bekam keine Antwort. Stattdessen hörte sie schnelle Schritte davonhuschen. Sie sprang aus dem Bett, stürzte zur Tür, drehte den Schlüssel im Schloss und riss die Tür auf. Sie spähte nach rechts und links. Es war stockdunkel und menschenleer.
Eben wollte sie die Tür wieder schließen, als sie im Schein der Stirnlampe einen Gegenstand auf der Betonplatte entdeckte. Sie bückte sich und hob ihn auf. Eine kleine Gorillafigur aus Holz, vielleicht fünf Zentimeter groß. Irgendwo hatte sie genau so eine Figur schon einmal gesehen. Sie steckte sie in eine Seitentasche ihres Rucksacks, schloss die Tür zweimal ab und legte sich wieder ins Bett.
8
Westseite des Ruwenzori, am späten Abend des 10. Juni
Seit fast vier Stunden trieb Paul seine Leute gnadenlos durch die Schwüle des kongolesischen Regenwaldes. Nun ließ er den Treck der etwa hundert
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