Mondlaeufer
den Blick von ihren Aufzeichnungen. »Meine Herren, offensichtlich steht es unentschieden.«
Rohan sah sie nicht an, denn er wusste, was in ihren Augen stand. Masul kaute auf seiner Lippe, während die Finger seiner einen Hand auf dem geschnitzten Holzpodest der Wasseruhr trommelten.
Schließlich erhob sich Rohan und zog bewusst alle Blicke auf sich. »Meine Herren, es ist so, wie Lady Andrade sagte. Keine Seite hat eine Mehrheit. Da Firon keinen Prinzen hat und sowohl ich als auch die Regentin von der Abstimmung aus naheliegenden Gründen ausgenommen sind, sehe ich wenig Aussichten, dieses Unentschieden zu ändern.«
Bei dieser Bemerkung saßen alle kerzengerade. Doch es war Masul, der die Frage aussprach: »Was meint Ihr damit?«
Als jemand bei seinem anmaßenden Tonfall zornig die Luft einsog, fügte er noch hinzu: »Herr.«
»Ich meine, dass es einen Ausweg gibt. Die Beweise, die leicht zu erbringen sind, wurden erbracht und haben weder so noch so überzeugt. Doch …«
Endlich sah er seine Tante an. Sie nickte langsam und legte die langfingrigen Hände mit den zehn Ringen und den glitzernden Armbändern vor sich auf den Tisch.
»Was gibt es, Herrin?«, fragte Lleyn freundlich.
Sie entgegnete: »Die Faradh’im verfügen über Künste, die nicht allgemein bekannt sind – noch nicht einmal bei ihnen selbst. Zum Beispiel können einige von uns recht genaue Visionen von der Zukunft hervorrufen.«
Miyon lehnte sich mit einer ärgerlichen Handbewegung auf seinem Stuhl zurück. »Verzeihung, Herrin, aber Ihr wollt doch sicher nicht zeigen wollen, wie Prinz Masul in der Felsenburg herrscht? Ich habe noch nie etwas so …«
Andrade fuhr fort, als hätte Miyon gar nichts gesagt. »Ich habe solche Dinge selbst schon getan, Ihr Herren. Doch gegenwärtig ist etwas anderes für uns wichtig. Die Vergangenheit, und speziell jene Nacht vor einundzwanzig Jahren, ist in meinem Gedächtnis gespeichert. Mit Hilfe bestimmter … Techniken … werde ich diese Vergangenheit für Euch alle heraufbeschwören können, damit Ihr es mit eigenen Augen seht. Es ist schwierig und möglicherweise gefährlich. Aber jene von Euch, die mir nicht glauben, werden vielleicht dem Beweis glauben, den ich erbringen werde.«
»Und warum sollten wir das glauben – oder überhaupt gestatten?«, rief Velten aus. »Ich habe bisher auch noch nie von dieser angeblichen Fähigkeit gehört! Warum sollten wir uns darauf einlassen?«
»Ihr wagt es, die Worte der Herrin infrage zu stellen?«, fragte Lleyn mit blitzenden Augen.
»Friede, mein Freund«, sagte Andrade. »Er hat ein Recht auf Zweifel. Würde es Euch zufriedenstellen, Prinz Velden, wenn ich erst einmal eine Szene aus der Vergangenheit beschwören würde, der wir beide beigewohnt haben?«
Cabar starrte sie mit offenem Mund an; Miyon war besorgt und versuchte, das zu verbergen; Masuls Lippe verzog sich verächtlich. Pimantal sah fasziniert aus und Saumer hoffnungsvoll. Er sagte: »Wenn es unsere Zweifel beseitigt und nicht zu gefährlich für Euch ist …«
»Das ist es wahrscheinlich«, sagte Andrade achselzuckend. »Aber diese Person halte ich für noch gefährlicher.« Sie fixierte Masul durchdringend. »Nun? Seid Ihr Eurer selbst so sicher, dass Ihr die Wahrheit durch Lichtläufer-Kunst enthüllen lassen könnt?«
»Der ich sehr wenig vertraue«, gab er sofort zurück. »Doch wenn die Hoheiten es wünschen, warum nicht?« Er lächelte.
»Sehr schön.« Andrade erhob sich und verbeugte sich vor Rohan. »Mit Eurer Erlaubnis, Herr, werde ich mich in meinen Pavillon zurückziehen und mich vorbereiten.«
»Wird es morgen passen, Herrin?« Ihre plötzliche Blässe beunruhigte ihn.
»Heute Abend bei Sonnenuntergang. Ich möchte, dass es endlich vorbei ist.« Wieder durchbohrte sie Masul mit ihrem Blick. »Ihr habt schon genug Zeit und Energie beansprucht. Die Hoheiten haben wahrhaftig wichtigere Dinge zu regeln.«
Ohne weitere Worte verließ sie das Zelt. Eine ängstliche Stille blieb zurück. Jeder Prinz blickte den anderen und schließlich Rohan an. Dieser räusperte sich.
Doch ehe er irgendetwas sagen konnte, sprach Masul. Gedehnt, amüsiert, jedoch mit einem feindseligen Unterton in der Stimme. »Nun, Vetter«, sagte er zu Rohan, »offensichtlich ist Eure Familienhexe Eure letzte Hoffnung. Doch ich bin unbesorgt. Mir macht nichts Angst.«
»Dann seid Ihr ein Dummkopf«, erwiderte Rohan gelassen. »Wir treffen uns hier bei Sonnenuntergang, meine Herren. Ich nehme an, niemand wird
Weitere Kostenlose Bücher