Mondlaeufer
trotzdem nicht vorstellen, warum irgendjemand, der Lichtläufer werden kann, nicht darum kämpfen sollte.«
Sie waren jetzt am Fuß der Treppe angelangt, die auf einem langen, breiten Korridor endete, der in einer Richtung zum Speisesaal führte, in der anderen zu den Archiven, zur Bibliothek und zu den Unterrichtsräumen. Andry und Hollis waren unter den Letzten, die diesen Flur hinuntergingen. Als sie an einer Fensteröffnung vorbeikamen, sahen sie vier Jungen und zwei Mädchen eng beieinanderstehen, die mit großen Augen zuhörten, während ihnen ein Lichtläufer erklärte, wie sie Lady Andrade zu begrüßen hätten. Die Mädchen und einer der Jungen waren höchstens dreizehn, die anderen drei Jungen waren älter – fünfzehn oder sechzehn. Der größte von ihnen war ein gut aussehender, selbstbewusster Jüngling mit nachtschwarzem, glänzendem Haar und tiefen graugrünen Augen, der Andrys Lächeln ruhig registrierte, ohne es zu erwidern. Dann glitt dessen Blick zu Hollis – mit dem abschätzenden, wohlwollenden Ausdruck eines Mannes, der seine eigenen Vorzüge kennt und sie zu nutzen weiß. Aber es war mehr an ihm, ein Selbstbewusstsein, das Andry überraschte. Das leichte Erröten von Hollis überraschte ihn ebenso.
Im Speisesaal trennten sie sich. Hollis gesellte sich zu den anderen ranghöheren Lichtläufern, er zu den anderen Lehrlingen. Es gab wie üblich drei Gänge: Suppe, Fleisch und Salat, Obst und Kekse. Das Essen bei Andrade war einfach, wenn auch reichlich, und Andry freute sich bereits auf die Köstlichkeiten beim Rialla . Er aß gern Süßes. Frische Beeren oder würziges Gebäck halfen da wenig. Schließlich wurden dampfende Teekrüge herumgereicht, und als er sich einen Becher voll einschenkte, atmete er den scharfen, leicht mit Zitrone versetzten Geruch tief ein. Von seinem Leben in Radzyn vermisste er nichts so sehr wie die Familienausflüge, bei denen Blätter, Rinden und Kräuter aller Art für die spezielle Teemischung seiner Mutter gesammelt wurden. Sie liebte es, Tee zuzubereiten. Sie konnte zahlreiche Abende damit verbringen, in der Küche die genau richtige Mischung zusammenzustellen, während ihr Gatte die Köche hinausjagte und sich für die Obstkuchen, die sein Beitrag zu ihren Familienfesten waren, eine Schürze anzog. Andry hatte herrliche Erinnerungen an Stunden voller Gelächter und Gemeinsamkeiten – und Ringkämpfe mit seinen Brüdern –, in denen sein Vater beim Backen friedlich den Krieger abgelegt und seine Mutter riesige Säcke mit der neuen Tee-Ernte gefüllt hatte.
Als die sechs Neuankömmlinge in den Saal geführt wurden, vergaß er seine Erinnerungen. Er versuchte, sie so zu sehen, wie es Andrade vielleicht tat, die Neuen wie ein Herr der Schule der Göttin zu mustern. Seine Aufmerksamkeit wandte sich rasch dem schwarzhaarigen Jüngling zu. Ein Blick auf Hollis verriet ihm, dass auch sie nur diesen Jungen ansah, der sich mit der sicheren Leichtigkeit eines Edeljungen bewegte. Seine schönen, feinen Züge verrieten eine edle Abstammung, und seine Hände waren gepflegt, auch wenn seine Kleider einfach und ziemlich abgetragen aussahen. Andry war zu weit weg, um seinen Namen verstehen zu können, doch Andrades Reaktion konnte er leicht deuten. Man musste dafür das Spiel ihrer Lippen, ihrer Brauen und Augenmuskeln zwar lange kennen, doch Andry wusste sofort, dass sie beeindruckt war. Als die sechs nach ihren Verbeugungen zu den entferntesten Tischen zurückgingen, sah Andry, wie der Junge Hollis’ Blick auffing und mit einem Lächeln in den Augen so lange wie möglich festhielt.
Sobald Andrade sie alle entlassen und sich in ihre eigenen Gemächer zurückgezogen hatte, lief Andry zu der Braut seines Bruders hinüber und fragte: »Wer war das überhaupt? Hast du seinen Namen verstanden?«
»Wessen Namen?«
»Das weißt du sehr genau. Ich meine den mit dem schwarzen Haar und den komischen Augen.«
»Fandest du sie komisch? Er heißt Seldges oder so. Ich habe es nicht genau verstanden.«
»Ich frage mich, von wo er kommt«, überlegte Andry, »Ist dir auch aufgefallen, dass er nie nach unten geblickt, sondern Andrade die ganze Zeit über angestarrt hat?«
»Ein Bursche, der so aussieht, ist es sicher gewohnt, selbst angestarrt zu werden. Ich schätze, Zurückstarren ist eine Verteidigungsreaktion. Aber eins ist sicher: Der ist schon längst ein Mann! Die Nacht seines ersten Rings wird ihm sicher nichts Neues bringen.«
Andry lächelte, um die Scham zu verbergen,
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