Mondschwingen (German Edition)
Fuß an der
hervorragenden Planke ab. Die Reling war ganz nah, er musste sich nur nach ihr
strecken, um heranzukommen. Seine Hand glitt zum Geländer herauf, er streifte
mit den Fingerspitzen das Holz … dann sah er die Gallionsfigur, nicht weit
daneben. Sie hing kopfüber über der Reling und starrte zu Rubens herab. Ihr
hölzernes Haar war zerbrochen, ihre Nase war rissig. Beim Kanoneneinschlag
musste die Nixe nach hinten geschleudert worden sein und nun hing sie da und
schaute mit funkelnden Glasaugen dem Wasser entgegen.
Rubens‘ Finger krallten
sich in die Falten ihres Kleides, das weiter unten in einen mächtigen
Fischschwanz überging. Die Nixe wackelte und beugte sich krächzend nach vorn,
als er sich an ihr hoch zog und sie fest umklammerte.
Sein Blick schweifte
über den See, nichts als Trümmer und sterbende Schiffe.
Die ersten Strahlen
lugten übers Wasser, fein und bleich im zerfetzten Nebel. Man hörte nichts
außer das Seufzen der Wracks und den schwappenden
Wellen.
Das unversehrte Schiff
hätte er fast übersehen, es ruhte zwischen seinen sterbenden Artgenossen und
gab keinen Laut von sich.
Rubens wusste nicht, was
er fühlte, Hoffnung oder Panik oder vielleicht auch nichts. Aber er begriff,
dass er rufen musste, dass die letzte Hilfe nur ein paar Steinwürfe entfernt
war, dass es um Leben und Tod ging, um Alles und Nichts.
Das Schiff unter ihm
stöhnte schon wieder auf, Rubens spürte schon eiskaltes Wasser an seinen
Knöcheln, gierig kroch es an ihm herauf.
Rubens fing an zu
schreien, seine Stimme wurde verzerrt vom Wind. Er wedelte mit einem Arm und
umklammerte mit dem anderen die Meerjungfrau, er flehte um Beistand, um Hilfe
und um Rettung. Jetzt erst packte ihn die Angst, heimtückisch hauchte sie ihm
ein, dass es vorbei war, dass sein Schreien umsonst war, dass er sterben würde,
in den winterlichen Fluten. Vorbei.
Bis zu den Hüften stand
er im Wasser, die Haarspitzen der Nixe verschwanden im Wasser. Rubens konnte
sie nicht loslassen, umklammerte sie ganz fest. Seine Schreie wurden leiser und
das Wasserglucksen lauter, das wie ein Lachen klang, ein spöttisches. Ein
letztes Mal schnappte Rubens nach Luft, bevor er und die Nixe in die Tiefen
hinuntergezogen wurden.
Vorbei.
Da war nur noch Kälte
und sonst nichts. Die Meerjungfrau wand sich aus seiner Umarmung und ging
unter. Rubens wollte in die entgegengesetzte Richtung schwimmen, doch der Sog
war so stark, dass er ihn nach unten riss. Er presste und zerrte und zog ihn
ins Dunkel.
Rubens wollte sich
wehren, schlug mit den Armen aus, trat um sich, damit er sich aus dem Sog
befreien konnte. Er sah nach oben und erblickte Trümmerstücke, die auf den
Wellen tanzten. Lichtfinger drangen durch die Wasseroberfläche und wurden
verschluckt von der Finsternis des Sees.
Rubens wurde zur Seite
gewirbelt, er sah das Schiff unter sich und die hüpfende Meerjungfrau und
dahinter … war nichts als Schwärze. Nun schlug er noch wilder um sich, noch
viel kräftiger, einen Augenblick lang wich sogar die Kälte von ihm, so sehr
bewegte er sich. Aber das Schiff wollte ihn nicht gehen lassen.
Er hätte fast schon
aufgegeben, wenn er nicht ganz plötzlich die Krallen am Arm gespürt hätte. Sie
verdrängten die stechende Kälte und das schmerzhafte Pochen im Kopf, sie
verdrängten sogar kurz die klopfende Angst, die ihn ganz und gar erfüllt hatte.
Rubens wandte sich um, so schnell es ging, und starrte in die Fratze eines
hungrigen Fisches.
Zwei schwarze Augen
glotzten ihn an, Tentakel und Greifarme klebten an seinem Kopf, die mit Krallen
geschmückt waren. Ansonsten glich der Mähnenbeißer einem ganz normalen Fisch,
nur war er noch ein bisschen riesiger und mordlustiger.
Vorbei. Wieder einmal.
Die Tentakel bewegten
sich, sahen wie Schlangen aus, schossen auf Rubens zu und packten ihn von allen
Seiten
Rubens‘ erster Impuls
war zu fliehen. Irgendwie.
Doch dann bemerkte er
die ersten Greifarme, die sich langsam an seinen Hals hochtasteten, scharfe
Kralle fuhren über seinen Kragen. Wenn er sich jetzt ruckartig bewegte, war es
vorbei, das wusste er. Er musste ruhig bleiben und eine andere Lösung finden.
Auch wenn ihm mehr und mehr die Luft ausging.
Der Mähnenbeißer drückte
fester zu, umschlang Rubens‘ Beine und presste seine Arme an den Körper,
schuppige Armenden fuhren über sein Gesicht. Rubens‘ Herz trommelte wie wild
und seine Welt bestand nur noch aus dem Drang nach Atmen und der Befreiung aus
den viel zu starken Armen.
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