Monrepos oder die Kaelte der Macht
wartete.
Sie flogen mit Getöse ins stille Untersteiner Tal, direkt vor die Auffahrt zum Kurhotel, dessen betagte Gäste, es war November, zu Tisch saßen und sich an ihrer Schonkost fast verschluckten. Das gab Gesprächsstoff, unbezahlbar. Die Hoteldirektion stand vollständig Spalier und erstattete Bericht; hotelseits war alles für das Wohl der illustren Gäste vorbereitet. Wiener und Gundelach marschierten sofort zum Konferenzraum, Specht ließ sich zuvor noch in seine Suite geleiten, zum Frischmachen. Wahrscheinlich warf er einen letzten Blick in die Unterlagenmappe. Sein fotografisches Kurzzeitgedächtnis erlaubte ihm, ganze Passagen wörtlich wiederzugeben.
Das Konferenzzimmer war bereits gut gefüllt. Dr. Gerstäcker hatte seinen Platz an der Stirnseite des aus zusammengeschobenen Tischen gebildeten Rechtecks eingenommen und verteilte Scherzworte in die Runde. Man war eine Viertelstunde über der Zeit. Jemand sprach fragend vom akademischen Viertel. Das war das Zeichen für Tom Wiener, noch während des Entrées die Verspätung zu entschuldigen, Specht anzukündigen und ihn als Mann des Volkes, ohne akademische oder sonstige Allüren, vorzustellen. Als Wiener sich setzte, hatte er die Stimmung schon im Griff.
Gundelach ließ die Augen wandern. Gut, die ganz großen Namen aus der Industrie fehlten. Ein Zahn, ein Prinz von Daimler Benz, ein Merkle von Bosch waren nicht zu kriegen gewesen, auch ein Emminger von der Bundesbank nicht oder Friedrichs, der Chef der Dresdner Bank. Das mußte sich entwickeln. Aber doch schon ein Rodenstock und Vorstände von Mannesmann, Thyssen und Veba. Dazu Präsidenten, daß es einem warm ums Herz werden konnte – des Bundesverfassungsgerichts, des Bundesarbeitsgerichts, der Bundesanstalt für Arbeit.
Daß Stingl zugesagt hatte, war besonders wichtig. Über die Zukunft des arbeitenden Menschen im Deutschland der achtziger Jahre wollte man diskutieren, ein Thema, das zwischen Bodenhaftung und Perspektive die Mitte hielt. Stingl, zweifellos, vertrat die schwergewichtige Bodenhaftung. Von Edzard Reuter, dem Arbeitsdirektor bei Daimler Benz, hieß es dagegen, er verfüge über geschliffene, zum Visionären fähige Eloquenz. Specht konnte, je nach Situation, der einen oder der anderen Seite zuneigen; so lautete die Regie.
Reuters Einladung war zunächst etwas umstritten gewesen. Schließlich war er Sozialdemokrat, wenn auch ein gemäßigter. Doch als Sohn des legendären ersten Regierenden Bürgermeisters von Berlin war Reuter gewissermaßen prominent. Tom Wiener, der Berliner aus Leidenschaft, wollte ihn unbedingt. Reuters Anwesenheit dokumentiere parteipolitische Offenheit, argumentierte er. Specht und Dr. Gerstäcker ließen sich schließlich überzeugen.
Eingestreut zwischen den Männern des Kommerzes saßen die Professoren: Juristen und Nationalökonomen, der Chance, leibhaftigen Wirtschaftsbossen auf Tuchfühlung nahe zu kommen, dankbar entgegenblickend. Mit gezücktem Füllfederhalter und aufgeschlagenem Kollegheft vor sich, waren sie erkennbar präpariert. Ein milde lächelnder evangelischer Bischof scherzte mit einem verschmitzten Monsignore.
Ganz unten, denkbar ungünstig an der Ecke plaziert, verharrte ein winziger, weißhaariger Mann, mit dem niemand so recht etwas anzufangen wußte, schweigend, doch mit strahlenden schwarzen Augen. Gundelach grüßte und wußte instinktiv, daß in Sören Tendvalls ausgebeulter Jackentasche ein Kuvert mit so vielen Banknoten steckte, daß er anderntags die Rechnung würde bar begleichen können.
Endlich hielt Oskar Specht Einzug. Falls er aufgeregt war, wußte er es gut zu verbergen. Die von den Fachabteilungen der Staatskanzlei zusammengetragenen Vermerke und Statistiken über Wirtschaftslage und Beschäftigungsprobleme würdigte er keines Blickes. Er packte sie nicht einmal aus. Statt dessen sprach er von der Einmaligkeit der politischen Situation in Deutschland und in Europa, die ihn und die Tendvall-Stiftung bewogen hätten, dieses Gremium führender Vertreter des öffentlichen Lebens einzuberufen.
Die USA, die er gerade erst besucht habe, würden sich Europa gegenüber mehr und mehr abschotten, sagte Specht. Ihre Haushalts- und Währungspolitik nehme auf internationale Stabilitätsbelange keinerlei Rücksicht mehr, das Handelsinteresse konzentriere sich immer stärker auf Japan und den pazifischen Raum, und die Abrüstungsverhandlungen mit der Sowjetunion verfolgten eindeutig bilaterale Zwecke, um die Europäer zu einem
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