Monrepos oder die Kaelte der Macht
Fraktionschef anzutreten und – wieder – zu gewinnen. Der Riecher, ein halbes Jahr vor Breisingers jähem Ende auf den Stuhl des Innenministers zu wechseln, so daß er in der Fraktion noch und in der Regierung schon als der starke Mann galt.
Immer, so schien es, leitete ein leuchtender Stern Spechts Bahn. Und immer belohnte ihn das Geschick für den Mut, anders zu handeln, als es normaler Vernunft entsprach. Bestärkt wurde er darin von einem Hellseher, dessen Existenz nur wenigen bekannt war und dessen Name er stets verschwieg. An ihn wandte sich Oskar Specht zuweilen und gewann, wenn es dessen überhaupt noch bedurfte, die letzte Gewißheit, ein vom Schicksal Auserwählter zu sein.
Als Gundelach das begriffen hatte, wurde ihm klar, daß Specht seine Mitarbeiter nur als Hilfswerkzeuge betrachten konnte, die ihm, dem großen, zum Außerordentlichen berufenen Werkzeug zu Diensten zu sein hatten. Das machte ihn kalt und gleichgültig gegen individuelle Schicksale, die, solange sie mit seinem verknüpft waren, ohnehin nur aus abgeleiteten Funktionen bestanden. Eigentlich interessierten sie ihn nicht; und daß er Menschen, die von ihm abhängig waren, auch seinerseits nötig haben könnte, wäre ihm nicht in den Sinn gekommen.
Merkwürdigerweise kränkte Gundelach diese Erkenntnis nicht. Sie hatte, im Gegenteil, etwas ungemein Beruhigendes: Es war falsch, sich wie Tom Wiener mit allen Fasern und bis zur Selbstaufgabe einem Mann zu verschreiben, der zu seiner Umgebung ungefähr dieselbe Beziehung hatte wie eine Zitronenpresse zu Zitronen. Solange jemand Talente und Eigenschaften besaß, die in Spechts Aufstiegsprogramm paßten, war er willkommen; zeigte er Ermüdungserscheinungen oder zuviel Eigenständigkeit, wurde er ausgewechselt.
Das war eine klare Grundlage, auf die man sich einstellen konnte. Spechts Trick bestand nur darin, diese Distanz durch scheinbare Vertraulichkeit zu überdecken, wenn er sich davon eine erhöhte Einsatzbereitschaft des Adressaten versprach. Darum war es nicht ratsam, sich allzu intensiv darauf einzulassen. Denn in der gleichen Weise, wie er die Illusion tiefwurzelnder Sympathie zu wecken imstande war, vermochte er bei nächster Gelegenheit die alte Rangordnung wiederherzustellen und den Befehlston eines ostelbischen Junkers gegenüber seinem Stallburschen anzuschlagen.
Alles war eine Sache des Kalküls, nichts weiter. Doch die meisten ließen sich durch Spechts hemdsärmelige Direktheit täuschen. Zwischen Himmel und Hölle, glühender Begeisterung und kaum gezügelter Angst, schwankte ihre tägliche Seelenlage.
Selbst Tom Wiener schien dagegen nicht gefeit. Obwohl er, seinen wiederholten Bemerkungen über Spechts Charaktereigenschaften zufolge, manches Abgründige und Zwiespältige an ihm erkannt haben mußte. Auf der anderen Seite aber konnte er nicht ohne emotionale Hingabe leben und arbeiten, das Bedürfnis nach Nähe und Zuneigung verließ ihn auch in den Stunden der Demütigung nicht.
Gundelach kannte sich mittlerweile gut genug um zu wissen, daß Wieners Bereitschaft, sich einem Größeren bis zur Selbstverleugnung aufzuopfern, seine Sache nicht war. Er meinte auch, aus manchen Andeutungen entnehmen zu können, daß Specht anderes von ihm erwartete: eine im Verborgenen gedeihende geistige Partnerschaft, deren Ausübung chiffriert wie die Übermittlung geheimer Nachrichten erfolgen mußte. Specht äußerte eine Idee, gab aber durch winzige sprachliche Einschränkungen – man müßte das mal näher untersuchen! sagte er, oder: Das sollte man natürlich noch verfeinern – zu erkennen, daß er sich auf diesem Feld noch unsicher fühlte. Gundelach griff das Thema auf, vertiefte sich darin, bis er ein politisch und fachlich schlüssiges Urteil zu haben glaubte, und baute das Ergebnis seiner Recherche bei passender Gelegenheit in eine Rede oder in einen Aufsatz ein, der unter Spechts Namen erschien. Aus der Resonanz dieser Passagen in den Medien leitete Specht dann den politischen Tauglichkeitsgehalt des Gedankens ab und konnte ihn, wenn er wollte, aufgrund der Vorarbeiten zügig in ein Bündel konkreter Maßnahmen umsetzen, das Verwaltung und Bürger gleichermaßen überraschte.
Dies erwies sich als ein außerordentlich wirkungsvolles Verfahren, dessen Vorteile auf der Hand lagen: Specht brauchte seine Ratbedürftigkeit nicht zu offenbaren, Gundelach konnte Widerspruch oder Korrekturen durch die Art der Behandlung des Sujets deutlich machen, und die sorgfältig gewählten
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