Monrepos oder die Kaelte der Macht
wandte.
Ja?
Soll ich euch bis zur Schule mitnehmen?
Au ja! Benny riß sich los und rannte auf ihn zu.
Heike holte ihn ein.
Kommt nicht in Frage, sagte sie scharf. Mein Sohn fährt an seinem ersten Schultag nicht mit Chauffeur vor.
Der Fahrer sah auf die Uhr. Benny senkte den Kopf. Gehorsam nahm er Heikes Hand. Die Schultüte berührte fast den Boden.
Gundelach stieg ein. Das letzte, was er von Benny sah, war das leuchtende Blau seiner neuen Jeansjacke.
Zwölf Jahre, um auf die andere Seite des Tischs zu gelangen
Orkanböen, zerstörte Häuser, verwüstete Waldschneisen im Oktober. Vergiftetes Rheinwasser, massenhaft tote Aale und bäuchlings treibende Barben im November.
Ungestüm, bedrohlich, wie es begonnen, verstrich das Jahr.
Nach Tschernobyl hatte Landwirtschaftsminister Reiser im Radio allmorgendlich Becquerelgrenzwerte und Empfehlungen für den Verzehr von Gemüse, Milch, Fleisch und Eiern durchgegeben. Etliche Male mußte er sich danach wieder korrigieren, weil das Bonner Gesundheitsministerium Gegenteiliges verlautbarte. Seinem Ansehen bekam das nicht sonderlich gut. Jetzt, nach einem Lagerhallenbrand im Schweizer Chemiekonzern Sandoz, war der Rhein mit pestizidhaltiger Löschwasserbrühe vollgeschwemmt; und wieder stand Reiser im Kreuzfeuer. Er mußte eingestehen, über Hergang und Ausmaß des Desasters wenig bis nichts zu wissen. Die Schweizer mauerten und vertuschten. Tausende toter Fische trieben an der Wasseroberfläche und erklärten sich nicht.
Der Durcheinander, hätte Specht wohl gesagt, war riesengroß.
Doch Specht zeigte wenig Neigung, zu den Unfällen und Katastrophen, die übers Land hereinbrachen, überhaupt etwas zu sagen. Tote Fische schwimmen unterhalb der Erklärungspflicht eines Regierungschefs. Seine Richtlinienkompetenz setzte dort ein, wo es darum ging, grenzüberschreitende, computergesteuerte Umweltnetze für Wasser, Boden und Luft anzukündigen. Das klang gleich ganz anders – perfekt, zukunftsweisend, international. Im Landtag warf ihm die Opposition deshalb vor zu kneifen, wenn es brenzlig werde. Natürlich bestritt er das mit Vehemenz. Aber, dachte Gundelach, es ist schon auffällig, wie einsam Reiser jedesmal dasteht, wenn etwas schief gegangen ist.
Nicht das destruktive Wüten der Elemente, sondern eine mit kulturellen Arabesken konstruktiv angereicherte Außenpolitik war Spechts Element. Ende Oktober führte er das lang ersehnte Kamingespräch mit Margret Thatcher, drei Wochen später war er bei Österreichs Bundespräsident Waldheim und Kanzler Vranitzky zu Gast. Er flog in einem von Stierle gechartertem Privatjet nach Wien, mit kunstverständiger Begleitung. Der unentbehrliche Wolfgang Bönnheim war dabei und die Ballettdirektorin, deren Compagnie gerade auf Vermittlung Spechts die ›XXX. Berliner Festtage‹ der DDR durch eine Premiere beglänzt hatte. In Wien erwartete die Reisegruppe, zu der auch Staatssekretär Wiener zählte, neben politischen Repräsentanten eine Galeristin, die mit Stierle eng befreundet war und ihre neueste Vernissage durch Prominenz aufzuwerten wünschte.
Auch international ließ sich also Gutes mit Schönem verbinden. Erst recht, seit Specht nun noch der Titel des deutsch-französischen Kulturbeauftragten schmückte. Die Vorbereitungen zum Antrittsbesuch bei Staatspräsident Mitterrand und Premierminister Chirac liefen bereits.
Gundelach sah in diesen Ausflügen ein Ventil, mit dem Oskar Specht den Überdruck hypochondrischer Unlustgefühle, die nach den Fehlschlägen der jüngsten Zeit von ihm Besitz ergriffen hatten, auszugleichen suchte. Um sich selbst wieder zu motivieren, mußte er ab und zu der heimatlichen Enge entfliehen. Wo Geld keine Rolle spielte und Fantasie sich ausleben durfte, sollte ihm jene Selbstgewißheit neu zuwachsen, die im mäkeligen politischen Umfeld mürbe zu werden begann.
Es gelang nur unvollkommen. Er stand sich selbst im Weg. Seine wesensgemäße Vorliebe für Schwarzweißmalerei, die ihm rhetorisch griffig und plakativ-witzig formulieren half, verführte ihn, die Welt so cassandrisch zu sehen, wie er sie dem Publikum schilderte. Der Staat – reformunfähig. Die Gesellschaft – ein Haufen Egoisten. Die Konjunktur – kurz vorm Kippen. Der Kanzler –.
Störrisch wie ein enttäuschtes Kind übertrug Specht die Schatten seiner Seelenlage aufs politische Panorama. Und wie bei jeder Wendung, erwartete er auch hierbei unbedingte Gefolgschaft.
Er bekam sie. Dem Kabinett bereitete es keine Mühe, die
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