Monrepos oder die Kaelte der Macht
großen Zimmer im 18. Stock eines tollen Hotels – es heißt Imperial – und schaue hinunter auf Hunderte von Frachtschiffen und Tankern, die darauf warten, im Hafen von Singapur entladen zu werden. Wirklich Hunderte, es ist keine Übertreibung – Schiffe, soweit das Auge reicht. Sie fahren durch die Straße von Malakka, das ist der Seeweg zwischen Malaysia und Sumatra, und sie löschen in Singapur ihre Ladung oder nehmen welche auf, und bestimmt sind auch Schiffe aus Hamburg darunter. Vielleicht sogar eins, das wir gesehen haben, als wir am 29. Juli Deinen zehnten Geburtstag gefeiert und die große Hafenrundfahrt gemacht haben? Wer weiß, möglich ist alles.
Schade, daß ich Dich seitdem nicht mehr besuchen konnte, aber Du weißt ja, die viele Arbeit und das Buch … Gott sei Dank ist es jetzt fertig, im Oktober wird es vorgestellt (ein komisches Wort für ein Buch, findest du nicht?), und danach will ich unbedingt ein Wochenende zu Euch kommen. Es gibt viel zu erzählen, und natürlich bin ich auch gespannt darauf, Deine neue Schule kennenzulernen.
Wir sind jetzt schon acht Tage in Ostasien und haben viel erlebt, das kannst Du Dir denken. Oft habe ich mir gewünscht, Dich bei mir zu haben, Dir die Städte, Bauwerke und Landschaften zu zeigen, die wir besuchten, und dabei Deine Hand in meiner zu spüren … Ach, was schreibe ich für einen Unsinn!
Als ob Du noch an der Hand geführt werden müßtest wie ein kleines Kind! Aber manchmal tut das immer noch gut, eine Hand zu halten, selbst Erwachsene brauchen das zuweilen und wünschen sich, wie ein Kind den Weg gezeigt zu bekommen. Als ich dreißig Jahre alt wurde – also ein Jahr vor Deiner Geburt – hatte ich dieses Gefühl ganz stark, weil …
Ach, Benny, ich schweife schon wieder ab und fasel von Dingen, die Dich gar nicht interessieren. Vielleicht kommt das daher, daß es hier furchtbar schwül ist und man wirklich Mühe hat, sich zu konzentrieren. Mein Kopf ist so heiß, als hätte ich Fieber, obwohl doch eigentlich die Klimaanlage funktionieren müßte. Wahrscheinlich ist sie kaputt, ganz einfach kaputt. Ich werde nachher mal den Hotelmanager fragen, aber der wird es bestimmt abstreiten, denn in Singapur hat alles perfekt zu sein, da sind sie ganz erpicht drauf. (Kennst Du das Wort ›erpicht‹ überhaupt, Benny? Es ist ziemlich altertümlich, und ich habe wenig Übung darin, Dir Begriffe oder Dinge zu erklären. Du würdest vielleicht sagen: da sind sie ganz wild oder geil drauf, oder noch anders, ich weiß es nicht).
Kannst Du Dir vorstellen, daß hier jeder, der eine Zigarette oder Papier wegwirft, hart bestraft wird? Die Straßen und Plätze sind blitzblank, ständig fahren Sprengwagen und Kehrmaschinen umher und städtische Angestellte schwingen die Besen, um ichweißnichtwas aufzufegen. Meiner Meinung nach haben sie einen Tick, einen Sauberkeits- und Hygienetick, aber der ist von oben verordnet, denn der Premierminister Lee Kuan Yew, den sie den Preußen Ostasiens nennen, duldet nicht die geringste Unordnung in seinem Staat.
Das gefällt unseren deutschen Unternehmern natürlich, und auch Specht ist von Lee ganz hingerissen, seit vielen Jahren schon. Und dann die hohen wirtschaftlichen Zuwachsraten und die billigen Löhne, und arg viel Demokratie ist auch nicht zu spüren. Dafür um so mehr Ordnung und Sauberkeit. Aber das nur nebenbei, ich will Dich nicht langweilen …
Ich habe mir sagen lassen, Singapur sei einer der größten Häfen der Welt, und wenn ich aus dem Fenster blicke, glaube ich das sofort. Eine Schiffsschlange bis zum Horizont, wie bei uns zu Ostern auf den Autobahnen. Nur sind es da Autos, richtig, Du Schlaumeier. (Eben hatte ich doch tatsächlich das Gefühl, Du stündest vor mir und zögest die Nase kraus, wie früher, wenn Dir ein spöttischer Gedanke durch den Kopf schoß, den Du für Dich behalten wolltest.).
Wir sind von Jakarta aus hierher geflogen, das ist nur ein Katzensprung, zweieinhalb Stunden. Jakarta ist die Hauptstadt Indonesiens, sie liegt auf der Insel Java, und ungefähr neun Millionen Menschen leben in ihr. Können aber auch schon zehn Millionen sein. Am besten schaust Du Dir das mal in Deinem Atlas an, dann siehst Du auch, was für ein riesiges Inselreich das ist. Die gesamte Küstenlänge beträgt 81000 Kilometer, also zweimal um den Äquator rum!
Aber wenn man mit Specht reist, hält man sich weniger in Badebuchten auf als in Halbleiterfabriken, Regierungsgebäuden und Abflughallen. Trotzdem reichte die
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