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Monsieur Papon oder ein Dorf steht kopf

Monsieur Papon oder ein Dorf steht kopf

Titel: Monsieur Papon oder ein Dorf steht kopf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Stagg
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er zum Bürgermeister gewählt worden war. Er hatte die Landwirtschaft, die das Leben seines Vaters und seiner Vorfahren ausgemacht hatte, verschmäht, den mageren Lebensunterhalt verachtet, der sich von dem kleinen Stückchen Land erwirtschaften ließ, das überwiegend aus Fels bestand. Stattdessen hatte er sich für eine sicherere Existenz entschieden. Bergbau aber war körperliche Schwerstarbeit, und als die Minen dann nach und nach geschlossen und er Mitte der achtziger Jahre entlassen wurde, war ein Teil von ihm erleichtert gewesen. Binnen eines halben Jahres nach seiner Entlassung hatte er es geschafft, zum Bürgermeister aufzusteigen, hatte den alten Henri Estaque bei der Wahl knapp geschlagen und seine politische Karriere begonnen. Aber all seine Winkelzüge, all seine Machenschaften, die ihm zur zweiten Natur geworden waren, vermochten ihm nun bei der Krankheit seiner Frau nicht zu helfen. – Zutiefst frustriert schritt er zum Fenster, wo die Berge hinter Regenwolken versteckt waren, die von Sekunde zu Sekunde bedrohlicher wurden. Darunter, auf der schmalen Ebene, lag das Wirrwarr der Lichter von St. Girons, das sich von den Pyrenäen weg erstreckte, Richtung Flachland, ganz so, als liefe es vor dem Sturm davon. Er drückte seine Stirn gegen das Glas. Die Kälte stellte eine willkommene Abwechslung zu der Stickigkeit des Zimmers dar, und er dachte über all die kleinen Umstellungen in der nächsten Zeit nach, all die winzigen Details einer gemeinsamen Existenz, die abgewandelt werden mussten. Nur wenn er über die Einzelheiten nachdachte, vermochte er überhaupt ansatzweise zu begreifen, wie umfassend sich sein Leben verändern würde.
    »Monsieur Papon?«
    Die Krankenschwester stand mit strenger, wenn auch verständnisvoller Miene in der Tür.
    »Sie sollten jetzt nach Hause gehen. Sie müssen sich etwas ausruhen.«
    »Nur noch fünf Minuten«, sagte er mit flehentlicher Stimme, und sie blickte auf ihre Uhr und nickte zustimmend. Dann schloss sich die Tür mit einem zischenden Geräusch wieder hinter ihr.
    Thérèse hatte vom Tag ihrer Diagnose an darauf bestanden, ihrer beider Leben nicht von dieser Krankheit durcheinanderbringen zu lassen. Da sie ohnehin ein recht verschlossener Mensch war, hatte sie den Gedanken verabscheut, Gegenstand von irgendwelchem Gerede zu werden, egal wie gut gemeint es auch sein mochte, und so hatte sie darauf bestanden, dass er niemandem davon erzählte. Nicht einmal ihrer einzigen noch lebenden Schwester. Sie hatte den Vorschlag abgelehnt, sich zu Hause pflegen zu lassen, da sie nicht wollte, dass sich ihr Haus in ein Hospital verwandelte oder die Erinnerungen ihres gemeinsamen Lebens vereinnahmt wurden von dem Gedanken an den Tod. Und als er vorgeschlagen hatte, dass er über Nacht im Krankenhaus bleiben könne, wenn es ihr schlechter ging, da hatte sie ein Machtwort gesprochen.
    Die Erinnerung an ihre Entrüstung ließ ihn kläglich lächeln. Es war ein seltenes Aufblitzen ihrer inneren Stärke gewesen, von der nur wenige wussten, dass Thérèse sie besaß. Aber genau deshalb steckte er nun in einer Zwickmühle. Sollte er ihre Wünsche respektieren und gehen, obwohl sie nicht bei Bewusstsein war? Oder sollte er sich auf seine gewohnt egoistische Art und Weise benehmen und genau das tun, was er wollte, nämlich bei ihr bleiben?
    Ein Geräusch vom Bett erregte seine Aufmerksamkeit.
    »Thérèse«, flüsterte er und griff nach ihrer Hand. Ihre Lider zuckten und öffneten sich, und ihre Augen mühten sich, ihn anzublicken.
    »Geh heim«, murmelte sie, und ihre Finger schlossen sich um die seinen.
    »Ganz bestimmt?«
    Sie blinzelte, was einem Nicken am nächsten kam. Zu mehr war sie nicht mehr fähig.
    »Also schön. Wenn das dein Wunsch ist«, sagte er mit resignierter Miene. »Dann bis morgen früh.«
    Er küsste ihre eingefallene Wange.
    »Serge … Es tut mir leid.«
    »Aber sag doch so etwas nicht! Du hast doch gar keinen Grund, dich zu entschuldigen.« Er kämpfte mit den Tränen und drückte sanft ihre Hand. »Du bist das einzig Wahre in meinem Leben.«
    Ihre Lider zuckten als Reaktion auf seine Worte, und er konnte sehen, dass sie versuchte, den Kopf zu schütteln.
    »So … leid …« Ihre Stimme verstummte, und sie sank wieder zurück in diesen Dämmerzustand, in dem er sie nicht mehr erreichen konnte.
    Er blieb noch ein paar Minuten an ihrem Bett stehen, sah zu, wie sich ihre Brust hob und senkte, bis er das betonte Räuspern der jungen Krankenschwester

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