Montgomery & Stapleton 05 - Das Labor des Teufels
und ihr Stethoskop zurechtgerückt hatte, eilte sie zur Tür und blickte den Gang in beide Richtungen entlang. Zum Glück hatte scheinbar niemand Stephens Schrei gehört, denn auf dem Flur war es still wie im Leichenschauhaus. Vorsichtig zog sie den Ärmel ihres Kittels über den verkratzten Unterarm, warf einen letzten Blick auf Stephen, um sicherzugehen, dass sie nichts vergessen hatte, und trat hinaus in den Flur.
Ohne Zeit zu verlieren, marschierte sie zur Brandschutztür zurück. Sobald sie auf der anderen Seite war, lehnte sie sich mit dem Rücken dagegen. Sie war von der unerwarteten Komplikation leicht genervt, hatte sich aber bald wieder unter Kontrolle. Es war doch zu erwarten gewesen, überlegte sie, dass früher oder später Komplikationen auftreten würden, egal wie gut alles geplant war. Sie nahm sich noch kurz die Zeit, um ihren Unterarm im helleren Licht zu betrachten: Stephen hatte ihr an der Innenseite des Unterarms drei etwa acht Zentimeter lange Kratzer verpasst, die sich bis zum Handgelenk hinunterzogen. Aus zweien sickerte Blut. Sie schüttelte den Kopf – dieser Stephen hatte es nicht anders verdient.
Vorsichtig zog Jazz den Ärmel wieder nach unten und sah auf die Uhr. Zwanzig nach drei, und sie hatte immer noch eine Sanktion durchzuführen. Der Moment war günstig, weil die für Rowena zuständige Krankenschwester ebenfalls Pause machte und erst in zehn Minuten zurückkommen würde. Doch zum Trödeln war keine Zeit. Rasch ging sie zum Hauptfahrstuhl und fuhr auf ihr Stockwerk.
In der Schwesternstation traf sie nur Charlotte Baker, eine Schwesternhelferin mit Koboldgesicht, die Krankenberichte ausfüllte. Jazz blickte in den Materialraum und in die Medikamentenausgabe, von deren geteilter Tür die obere Hälfte offen stand. Beide Räume waren leer.
»Wo ist denn unsere furchtlose Anführerin?«, erkundigte sich Jazz und blickte den Flur in beide Richtungen entlang. Niemand zu sehen.
»Ich glaube, Ms Chapman ist in Zimmer 602 und hilft dabei, einen Katheter zu legen«, erklärte Charlotte ohne aufzublicken. »Aber ich bin nicht ganz sicher. Ich halte hier schon seit einer Viertelstunde die Stellung.«
Jazz nickte und blickte den Flur hinunter in Richtung Zimmer 602, das von der Schwesternstation aus entgegengesetzt zu dem von Rowena lag. Eine bessere Gelegenheit würde sich nicht bieten; als Jazz sicher war, dass Charlotte nicht auf sie achtete, machte sie sich auf den Weg zu Zimmer 617. Und wieder beschleunigte sich ihr Puls, doch diesmal, nach dem Erlebnis mit Stephen Lewis, auch aus Angst. Der leichte Schmerz in ihrem Unterarm erinnerte sie daran, dass sie nicht alles unter Kontrolle haben konnte.
Ein Patient rief nach ihr, als sie an seinem Zimmer vorbeiging, doch sie achtete nicht auf ihn. Sie sah auf die Uhr. Noch sechs Minuten, bevor die anderen – auch die Krankenschwester, die für Rowena zuständig war – aus ihrer Pause zurückkommen würden. Aber da nie jemand besonders pünktlich war, hatte sie einen kleinen Puffer. Sechs Minuten waren eine Menge Zeit.
Das Zimmer war ähnlich aufgeteilt wie das, in dem Stephen gelegen hatte, allerdings fehlten hier der Teppich, die schicken Vorhänge, die Polstermöbel und die Bilder an den Wänden. Nur eine Nachtlampe brannte, die Tür zum Bad war angelehnt, das Licht aber ausgeschaltet. Rowena Sobczyk schnarchte leise. Obwohl sie schon sechsundzwanzig war, wirkte sie mit ihren zarten Gesichtszügen und dem dunklen, widerspenstigen Haar viel jünger.
Jazz drehte die IV-Flüssigkeit auf und begutachtete die Einstichstelle auf Schwellungen. Auch hier waren keine zu sehen. Sie zog die volle Spritze aus der Tasche, hielt sie in der rechten Hand und hob den IV-Port mit der linken an. Wie vorher schon bei Stephen zog sie die Nadelkappe mit den Zähnen ab. Dann schob sie die Nadel in den Port und legte den Daumen auf den Kolben. Nachdem sie einmal tief Luft geholt hatte, hielt sie den Atem an und drückte den Kolben nach unten.
Rowenas Oberkörper krümmte sich zusammen. Während Jazz die Spritze wieder herauszog, näherten sich Schritte draußen auf dem Flur. Dem Klang nach müssten es Susans klobige Schwesternschuhe sein. Kurz blickte sie durch die halb offene Tür auf den Flur, dann wieder zu Rowena, die den Arm mit der IV-Kanüle umfasste und Gurgelgeräusche von sich gab.
Panisch ließ Jazz die Nadel und die Nadelkappe in ihre Kitteltasche gleiten und trat vom Bett zurück. Eine Sekunde lang dachte sie daran, sich im Bad zu verstecken,
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