Montgomery u Stapleton 01 - Blind
Wänden. Verglichen mit den Wohnhäusern, in denen sie heute gewesen war, war das hier eine Bruchbude.
Sie fand es deprimierend, daß alle Überdosisopfer in ihrem Alter oder jünger gewesen waren und finanziell offenbar erheblich besser dagestanden hatten als sie. Sie zahlte jetzt schon mehr Miete für ihre wenig komfortable Wohnung, als sie sich bei ihrem Gehalt eigentlich leisten konnte. Es war frustrierend.
Tom hellte Lauries Stimmung sofort auf, als sie die Wohnung betrat. Da das Kätzchen den ganzen Tag und auch die letzte Nacht geschlafen hatte, war es ein Bündel von Energie. Mit einer wahrhaft staunenswerten Sprungkraft stieß er sich in einem Taumel von Ausgelassenheit von Wänden und Möbeln ab, daß Laurie Tränen lachte.
Laurie, die den Luxus freier Zeit kaum kannte, genoß die nächsten Stunden. Sie las, trödelte herum und nahm dann ein Bad. Da keine gegenteilige Nachricht von Jordan vorlag, ging sie davon aus, daß es, wie vereinbart, beim Abendessen um neun Uhr blieb.
Sie brauchte eine halbe Stunde, um sich endgültig zu entscheiden, was sie anziehen wollte, und zog sich dazu dreimal komplett um. Fünf Minuten vor neun war sie fertig. Diesmal holte Jordan sie um Punkt neun selbst ab.
"Sie bringen mich bei meinen Nachbarn bestimmt ins Gerede", begrüßte Laurie ihn. "Die haben sicher gedacht, ich würde mit Thomas ausgehen."
Jordan hatte im Four Seasons einen Tisch für sie reservieren lassen. Auch dieses Restaurant kannte Laurie nicht. Obwohl das Essen ausgezeichnet, die Bedienung untadelig und der Wein hervorragend war, konnte sie nicht umhin, es mit dem namenlosen Restaurant zu vergleichen, in das Lou sie am Abend zuvor geführt hatte. Das chaotische, quirlige kleine Lokal hatte etwas so Anziehendes gehabt. Im Four Seasons war es dagegen so ruhig, daß es sie nervös machte. Da die einzigen Laute das Klingeln der Eiswürfel in den Wassergläsern oder das Klirren des Bestecks auf den Tellern waren, hatte sie das Gefühl, flüstern zu müssen. Zudem wirkte die Einrichtung in ihrer geometrisch strengen Nüchternheit abweisend kühl. Laurie hätte sich fast beim Trinken verschluckt, als ihr ein ketzerischer Gedanke kam: Was, wenn ihr weniger das Restaurant nicht gefiel als die Begleitung?
Jordan war gelöst und gesprächig und ließ sich über seine Praxis aus. "Es könnte gar nicht besser laufen", erzählte er. "Ich habe einen Ersatz für Marsha, die zehnmal besser ist, als Marsha je war. Ich weiß gar nicht, warum ich mir deswegen solche Gedanken gemacht habe. Und mit dem Operieren geht es auch bestens. Ich habe noch nie soviel operiert wie zur Zeit. Ich hoffe nur, es bleibt so. Gestern hat mich mein Steuerberater angerufen und mir mitgeteilt, daß dies ein Rekordmonat wird."
"Schön für Sie", sagte Laurie. Sie wollte gerade über ihre Entdeckungen vom Tage sprechen, doch Jordan ließ ihr keine Chance.
"Ich spiele mit dem Gedanken, ein weiteres Untersuchungszimmer einzurichten", sagte er. "Vielleicht sogar, einen Juniorpartner aufzunehmen, der sich um die Billigpatienten kümmert."
"Was sind Billigpatienten?" fragte Laurie.
"Die ohne Operation", erklärte Jordan. Er winkte dem Ober und bestellte noch eine Flasche Wein.
"Ich habe mir heute die Mikroproben von Mary OConnor angesehen", sagte Laurie.
"Ich würde lieber bei angenehmeren Themen bleiben", sagte Jordan.
"Wollen Sie denn gar nicht wissen, was ich herausgefunden habe?"
"Nicht unbedingt. Es sei denn, es ist etwas ganz Besonderes. Ich kann mich nicht bei ihr aufhalten. Ich muß weitermachen. Schließlich war ihr Allgemeinzustand nicht meine Sache, sondern die ihres Internisten. Sie ist ja nicht während der Operation gestorben."
"Was ist mit Ihren übrigen Patienten, die umgebracht wurden? Möchten Sie über die sprechen?"
"Eigentlich nicht. Ich meine, wozu soll das gut sein? Ich kann ja doch nichts für sie tun."
"Ich dachte nur, Sie hätten vielleicht das Bedürfnis, darüber zu sprechen. Ich an Ihrer Stelle hätte es ganz bestimmt."
"Es bedrückt mich", sagte Jordan. "Aber es bringt nichts, darüber zu sprechen. Ich konzentriere mich lieber auf die positiven Dinge des Lebens."
Laurie betrachtete Jordans Gesicht. Lou hatte gesagt, er habe nervös gewirkt, als er über den Tod seiner Patienten befragt worden war. Laurie bemerkte im Moment keinerlei Nervosität. Sie erkannte nur ein bewußtes Verdrängen: Er wollte einfach an nichts Unangenehmes denken.
"So positive Dinge wie die, daß Sie Paul Cerino gestern operiert
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