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Moonshine - Stadt der Dunkelheit

Moonshine - Stadt der Dunkelheit

Titel: Moonshine - Stadt der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alaya Johnson
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dass er heute Morgen nur mehr frisches Blut getrunken hatte. Seine Wangen waren so rosig wie die eines Nussknackers.
    Ein allgemeiner Mangel an guten Einfällen, gepaart mit Panik, machte mich in der ersten Hälfte unseres Unterrichts zu einer ausgesprochen nutzlosen Spionin. Andererseits war ich eine leidlich gute Lehrerin, und Nicholas strengte sich an. Fast schmerzfrei schafften wir den Rest des Alphabets, und er schrieb nur ungefähr jeden vierten Buchstaben falsch herum. Ich nahm eine Fibel, die ich in der Chrystie-Elementary-Schule ausgeliehen hatte, aus meiner Tasche und half Nicholas, sich durch seine ersten Wörter und schließlich seinen ersten Satz zu kämpfen.
    »Selig, die … die reinen … Herzens sind«, sagte er triumphierend, nachdem er ungefähr fünf Minuten gerungen hatte. Doch das Lächeln fiel in sich zusammen wie ein verunglücktes Soufflé, als ihm die Bedeutung der Worte klarwurde. »Das ist ein dummer Satz«, knurrte er. »Wer braucht überhaupt die Bibel, Charity? Was tut sie mir Gutes?«
    Ich empfand unwillkürlich Mitleid mit ihm. So jung gewandelt worden zu sein, hatte seinem Verstand augenscheinlich nicht gutgetan, und ich hatte den Eindruck, dass Rinaldo schon vorher einigen Schaden angerichtet hatte.
    Nicholas hatte angefangen, sich leicht vor und zurück zu wiegen, den Blick fest auf einen Punkt hinter meiner Schulter gerichtet.
    »Zu dunkel hier«, murmelte er. »Eine Reifenpanne. Die Züge haben alle platte Reifen.«
    »Wo bist du?«, flüsterte ich.
    Er blinzelte nur und starrte mich dann an, als wäre er überrascht, mich so nahe vor seinem Gesicht zu sehen. »Was ist? Willst du mich küssen, Charity?«
    Das Missverhältnis zwischen seiner kindlichen Stimme und der Anzüglichkeit in seinem Blick erschreckte mich, und ich lehnte mich abrupt auf meinem Stuhl zurück. Nicholas hätte vermutlich so weitergemacht, aber just in diesem Moment steckte Charlie den Kopf durch die Tür. Er war so bleich, dass sein Gesicht in dem schummrigen Licht körperlos im Raum zu schweben schien. Seine Hände zitterten wie die eines alten Mannes.
    »Nick«, sagte Charlie mit rauher Stimme. »Kathryn ist hier. Sie will erst gehen, wenn sie mit dir gesprochen hat.«
    Nicholas’ Blick verfinsterte sich. »Ich bin verdammt noch mal beschäftigt. Sag ihr, sie soll verschwinden.«
    Kathryn hatte seine Antwort offenbar gehört, denn ihre Stimme durchdrang nun unseren kleinen Zufluchtsort. »Du kommst sofort hier raus, du Abschaum, du dreckiges, undankbares Stück Schleim!« Ihre Stimme – schrill, aber melodiös – brach, und ich konnte ihr Schluchzen hören. »Komm hierher!«, schrie sie wieder.
    Nicholas schritt durch die Tür und zog sie hinter sich ins Schloss. Im nächsten Moment war ich am Türknauf, drehte ihn vorsichtig und hoffte, durch den Spalt einen Blick auf die Szene zu erhaschen, die sich in der Bar abspielte. Doch leider sah ich nur Charlies Cordhose. Ich konnte lediglich einen Streifen eines blauen Kleides ausmachen, wenn ich zwischen seinen Beinen hindurchblickte. Es war ein moderner Schnitt – das schloss ich daraus, dass der Saum mehr als zwölf Zentimeter über dem Boden endete. Kathryn, wer auch immer sie war, flüsterte Nicholas wütend etwas zu. Dank ihrer Aufregung konnte ich ein paar Wortfetzen aufschnappen.
    »… du musst es mir sagen …«, hörte ich.
    Ich strengte mich an, um noch mehr mitzubekommen, aber die Unterhaltung blieb größtenteils unverständlich. Nach einer Weile zog ich mich von der Tür zurück. So viel dazu, seine Geheimnisse auf diese Weise zu erfahren.
    Ich hielt inne. Vielleicht hatte er – abgesehen von den zerbrochenen Instrumenten – wichtige Utensilien der
Turn Boys
in diesem Raum gelagert. Ich stand auf und musterte die Wände.
    Noch immer konnte ich das unzusammenhängende Flüstern hören, als ich unter dem kaputten automatischen Klavier eine Reihe von Holzkisten entdeckte. Ich holte eine der Kisten hervor und öffnete den Deckel. Staub stob auf, und ich zog schnell den Aufschlag meiner grünen Jacke über die Nase, um nicht zu niesen. Lily würde mich umbringen. Schnell blätterte ich den Stapel wahllos aufeinandergelegter Papiere durch.
    Noten. Musik. Moderner Jazz seltsamerweise, obwohl Nicholas’ Kenntnisse eher im klassischen Bereich einzuordnen waren. Vielleicht gehörten die Notenblätter jemand anders? Joplin, Gershwin, Goodman, Armstrong … also, ich hätte gern die Bar besucht, in der man all diese Titel spielte, aber das

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