Moonshine - Stadt der Dunkelheit
die meisten Menschen. Einige Leute hatten viel Geld, und die Presse tat nur zu gern so, als hätte auch der Rest von uns genug zum Leben und keine Probleme.
Ganz in unserer Nähe blieb der Bürgermeister stehen, und als er sich zur Seite wandte, um die Frage eines seiner Berater zu beantworten, blieb sein Blick an mir hängen. Beinahe so, als würde er mich erkennen … Ehe ich begriff, was er tat, ging er an seinem Mitarbeiter vorbei und hielt direkt vor mir inne.
Die Klatschpresse hatte ihm den Spitznamen »Nachtbürgermeister« gegeben, weil er eine Vorliebe für ausschweifende Partys hatte. Er war blass wie jemand, der die Sonne nicht oft sah. Mit seinem blauen Hut und dem cremefarbenen Seidenanzug machte er zugegebenermaßen einen umwerfenden Eindruck. Sein Lächeln wirkte neugierig und sehr selbstsicher.
»Ich meine, mich zu erinnern, Sie schon einmal gesehen zu haben.«
»Mich … Tatsächlich?« Etwas Schlagfertigeres brachte ich nicht heraus, da mein Verstand sich offenbar in die Ferien verabschiedet hatte. Ich brauchte etwas zu essen – und zwar dringend.
»Letzte Woche, nicht wahr? Auf einer Demonstration zum Thema Kindersterblichkeit? Sie kommen anscheinend gern hierher.«
Er erinnerte sich an mich? Zum Glück weckte mich
das
auf. »Na ja, Sie scheinen Schwierigkeiten zu haben, Moral und finanzielle Interessen zu trennen. Deshalb dachten wir, wir weisen Ihnen die richtige Richtung.«
Er lachte, lüpfte kurz den Hut und stieg in den Fond des Duesenbergs mit den silbernen Zierstreifen.
Iris hüpfte vor Aufregung auf und nieder, und einige Demonstranten scharten sich um uns, als er davonfuhr.
»Ach, das war großartig, Zephyr.
Großartig.
Das drucken sie ganz sicher morgen in der Zeitung. Wie raffiniert! Sie sind Ihre eigene Dorothy Parker!«
Lachend blickte ich sie an. »Nur dass es im
Algonquin
eindeutig das bessere Essen gibt.«
»Also, wie oft kommen Sie hierher, um zu demonstrieren?« Ich sah auf. Eine Reporterin – was an sich schon eine Überraschung war – hatte es geschafft, sich neben Iris zu drängen.
»Oh, vielleicht zweimal im Monat. In letzter Zeit sogar einmal pro Woche.«
Die Reporterin, umwerfend schön und makellos gekleidet, mit einem mauvefarbenen Cloche-Hut aus Seide über ihrem perfekt frisierten kastanienbraunen Bob und einem Kleid mit tiefer Taille, das vermutlich aus dem Hause
Chanel
stammte, notierte meine Antwort mit einem leichten Lächeln auf den Lippen.
»Sie sind ganz schon beschäftigt«, sagte sie und sah mich an.
Ihre Lippen schimmerten kirschrot, ihre Augenbrauen waren zu ausdrucksstarken Bögen gezupft. Ich widerstand dem plötzlichen Bedürfnis, meine Brauen glatt zu streichen.
Iris beugte sich vor, so dass sie direkt im Blickfeld der Reporterin stand – als hätte irgendjemand sie je übersehen können –, und erklärte: »Unter der Verwaltung unseres derzeitigen Bürgermeisters geschehen so viele Ungerechtigkeiten, dass wir jeden Tag der Woche gegen etwas anderes demonstrieren könnten, ohne uns jemals zu wiederholen.«
Die Reporterin wandte sich Iris zu und begann zu strahlen. »Meine Güte, Mrs. Tomkins. Sie sehen großartig aus. Und Sie sind so aktiv wie eh und je. Meine Mutter sagte immer, dass Sie der sozialen Angelegenheiten eines Tages sicherlich überdrüssig werden würden.«
Iris hielt inne und musterte die Reporterin genauer. »Oh, Lily Harding, bist du das? Gott, du hast dich so sehr verändert, dass ich dich kaum wiedererkannt habe. Wie geht es deiner lieben Mutter? Geht sie noch immer in ihrer Gartenarbeit auf?«
Iris schloss Lily in die Arme – es war eine ihrer berüchtigten Umarmungen, bei denen sogar ein afrikanisches Rhinozeros zu ersticken drohte –, und die beiden fingen an, ihre anscheinend sehr lange Bekanntschaft wieder aufzufrischen. Iris war die Patentante von Lilys jüngerer Schwester und hatte mit der Mutter der beiden dasselbe Internat besucht. Lily war in ihrer offiziellen Funktion als Berichterstatterin über die
Anderen
für den
Evening Herald
anwesend.
»Und meine junge Freundin hier«, sagte Iris, nachdem die beiden sich gegenseitig auf den neuesten Stand gebracht hatten, »hat sich schon einen eigenen Namen gemacht. Ob du es glaubst oder nicht – sie ist in der Lower East Side als Lehrerin an der Abendschule tätig, die vor allem von Vampiren, Dämonen und Skinwalkern besucht wird, und sie ist ziemlich unerschrocken.«
Lily warf einen vielsagenden Blick auf das Plakat, das wir in die Höhe hielten,
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