Moonshine - Stadt der Dunkelheit
und konnte mich gerade noch zurückhalten, Amir zu fragen, ob er wisse, was er da tue.
Nach einem kurzen Ruck glitt der Aufzug recht geschmeidig nach oben, und Amir hielt ihn im obersten Stockwerk an. Ich versuchte, meine Miene unter Kontrolle zu halten, damit ich ihn nicht mit zu offensichtlichem Missfallen verletzte (wer war ich denn, so überheblich zu sein?), zog das Gitter des Lifts auf und trat in die Wohnung.
Ich erstarrte.
»Ein Prinz«, hatte er gesagt. Plötzlich konnte ich es glauben. Die Verwandlung vom staubigen, schwach beleuchteten Lager in den unteren Stockwerken konnte verblüffender nicht sein. Der Fußboden war aus Marmor, auf dem ein paar wertvolle Teppiche mit komplizierten persischen Mustern lagen. Die Wände waren liebevoll dekoriert, unter anderem mit einigen Instrumenten, die ich nicht kannte. Es sah aus, als würde die Wohnung sich über die gesamte obere Etage des Lagerhauses erstrecken, doch allein das, was ich von hier aus sehen konnte, war mehr wert als alles, was mein Vater in seinem ganzen Leben besessen hatte.
Amir brachte Aileen ins Gästezimmer, und als er zurückkehrte, stellte er fest, dass ich kaum mehr als ein paar Schritte weit gegangen war.
»Hübsch, nicht wahr?«, sagte er.
Instinktiv sprang ich auf den selbstgefälligen Stolz in seiner Stimme an. »Oh, ererbter Reichtum. Wie überaus beeindruckend! Es gibt Familien, die Hunger leiden …« Ich unterbrach mich, denn die Heftigkeit meines Ausbruchs ließ die Welt wieder ins Wanken geraten.
»Ist der Junge hier?«, fragte ich, während Amir einen Arm um mich legte und mich den Flur entlangführte. Vielleicht hat die
Abstinenzbewegung
doch nicht ganz unrecht, dachte ich.
Er schüttelte den Kopf. »Mein Bruder kümmert sich um ihn. Sein Zuhause ist sicherer.«
In meinem gegenwärtigen Zustand kam mir das wie eine absolut schlüssige Antwort vor. Ich blickte auf und sah, dass wir inzwischen in einem Raum mit einem abgedeckten Bett und kunstvoll bestickten Kissen angekommen waren. Ich setzte mich darauf und schnürte meine Schuhe auf. Gott, meine Füße schmerzten vielleicht.
»Morgen lasse ich mir wegen Rinaldo etwas einfallen«, sagte ich und blickte Amir an.
Sein Haar war feucht und lockte sich hinter seinen Ohren. Er wirkte beinahe genauso blasiert und eingebildet wie in Horace’ Klub, doch etwas wie Neugierde oder Zärtlichkeit ließ seine Züge verschwimmen.
»Und Sie erwarten die volle Bezahlung?«
Ich wand mich aus meiner Strumpfhose und ignorierte Amirs hochgezogene Augenbrauen. »Ich lebe in dieser Stadt. Ich sehe, was dieser Kerl uns allen antut. Ich nehme Ihr Geld, weil es den Anschein hat, als würden Sie es verschmerzen können. Ich helfe Ihnen, weil …«
»… ich diese Hilfe brauche.« Er lehnte sich an den Bettpfosten und ließ sich neben mich sinken. »Obwohl ich ein verdammter, ignoranter Frauenfeind bin?«
Oh, lass es, Zephyr. Küss ihn einfach.
Also sagte ich selbstverständlich: »Sie sind kein Mensch.«
Er schüttelte den Kopf. »Bereitet Ihnen das Kopfzerbrechen, Miss Hollis?«
Seine Nase berührte die meine, während er mit einer Hand meinen Nacken liebkoste. Ohne Vorwarnung breitete sich das Feuerwerk von meiner Brust aus bis in meine … Ich stöhnte, und wir sanken zur Seite in die Kissen. Seine Hitze, sein Duft, die offenkundigen Anzeichen, dass er einer der
Anderen
war, hatten mir nie etwas ausgemacht. Jetzt hingegen machten sie viel mehr als das.
»Warum hast du gegen den Vampir eigentlich nicht deine Kräfte benutzt?«
Er hatte mich küssen wollen, nun zog er sich zurück, und ich hätte mich selbst treten können.
»Ich konnte es nicht«, erwiderte er.
Wie seltsam. Ich schloss die Augen und spürte, wie seine Lippen über meine strichen. Er knabberte an meiner vollen Unterlippe, fuhr zärtlich mit der Hand von meinem Nacken hinauf zu meinem Kopf, um mir übers Haar zu streicheln.
Er erstarrte. »Zephyr … Was um alles in der Welt …«
Ich lachte, aber ich konnte die Augen nicht aufschlagen. Was jammerschade war, denn sein Gesichtsausdruck war sicherlich unbezahlbar. »Josephine Baker«, sagte ich.
»Wie bitte?«
»Eiweiß.«
»Ist das dein Ernst?«
»Ich glaube, es war Aileens Ernst.«
Wieder küsste er mich, diesmal ganz unschuldig auf die Stirn. »Gute Nacht, du kleine Barsängerin.«
Ich war eingeschlafen, bevor er die Tür geschlossen hatte.
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3 .
E in paar Stunden später erwachte ich, als die ersten schwachen Sonnenstrahlen den Himmel erhellten.
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