Moorseelen
schwebende Gefühl rührte daher, dass ich im Wasser trieb. »Nöck, Nöck, Nadeldieb, du bist unter Wasser und wir auch«, erklang die Stimme erneut. Während ich noch grübelte, was an dem Reim falsch war, fühlte ich plötzlich eine sanfte Berührung an meinem Arm. Ich drehte den Kopf und sah eine Gestalt, die mit geschlossenen Augen neben mir dahinglitt. Hellblonde Haare, weiße Haut: Mia. Aber sie konnte nicht gesungen haben, sie war doch tot, schoss es mir durch den Kopf. In dem Moment klappten Mias Augen auf und ihr stechender Blick aus leuchtend blauen Augen traf mich. Ihre Hand schnappte mit der Kraft einer Eisenfalle zu und umklammerte meinen Arm. Luftblasen stiegen an die Oberfläche, als sie den Mund öffnete. Ihre Stimme war nun nicht mehr hell und klar, sondern blubberte dumpf. »Du bist schuld«, sagte sie, und ihr Griff um mein Handgelenk verstärkte sich. Es gab einen Ruck, sie tauchte und zog mich mit sich. Nach unten, dahin, wo das Wasser nicht mehr braun, sondern lichtlos und schwarz wurde. Sie wollte sich rächen. Weil ich ihr Zeno weggenommen hatte, sollte ich das gleiche Schicksal erleiden wie sie.
Ich erwachte von meinem eigenen lauten Schrei. Wild mit den Händen fuchtelnd, versuchte ich noch halb im Traum, Mias glitschig-tote Hände abzuwehren, die mich umklammert hielten. Doch dann merkte ich, dass die Hände warm waren.
»Ruhig, Feline, alles ist gut, ich bin’s«, sagte eine männliche Stimme. Ich öffnete die Augen und sah direkt in Zenos besorgtes Gesicht. Diesmal war ich wirklich wach, wie ich erleichtert feststellte. »Meine Mutter hat mir schon alles erzählt. Du glaubst, Mia gesehen zu haben«, sagte Zeno, ehe ich noch ein Wort herausbrachte.
»Sie ist im Moorsee, gleich dahinten, bei den Wiesen. Ich habe sie da unter Wasser treiben sehen, Zeno! Du musst mir glauben, ich bilde mir das nicht ein! Sie ist tot«, sprudelte es aus mir heraus.
Eigentlich rechnete ich damit, Zeno würde mir das Gleiche sagen wie Deva: Ich sei überreizt und das Ganze ein Produkt meiner Fantasie. Stattdessen zog er mich wortlos an sich. Wie ein Fallschirmspringer in die Luft ließ ich mich in seine feste, tröstende Umarmung fallen. Die Zeit schien sich zu verlangsamen, die Sekunden tropften wie Kerzenwachs, wurden zäh und erstarrten … Dann löste sich Zeno behutsam von mir.
»Ich mache dir einen Vorschlag«, sagte er und sah mich mit seinem Bernsteinblick an. »Ich gehe zum See und sehe nach, ob Mia dort ist, okay?« Ich konnte ihn nur stumm anstarren. Wollte Zeno sich den Anblick der toten, bleichen Mia wirklich antun?
»Nein, geh nicht«, bettelte ich. »Lass uns die Polizei rufen und …« Ehe ich den Satz zu Ende bringen konnte, unterbrach mich Zeno scharf.
»Feline, noch wissen wir überhaupt nicht, ob Mia da unten ist. Nun lass bitte die Kirche im Dorf, okay? Wir können die Polizei immer noch rufen, wenn ich mich selbst überzeugt habe. Nicht, dass hier eine Hundertschaft an Beamten auftaucht und nach einem Hirngespinst sucht!«
Bei seinen letzten Worten zuckte ich zusammen. Also glaubte auch er mir nicht! Zeno musste meinem Gesicht angesehen haben, was ich dachte, denn seine Stimme wurde wieder sanft und er strich mir liebevoll durch die Haare.
»Hey, ich wollte dich nicht kränken. Aber ich kann nicht Alarm schlagen, ehe wir nicht ganz sicher wissen, ob an der Sache was dran ist. Das verstehst du doch, oder?«
Ich nickte matt. Irgendwo in meinem Kopf schwamm vage die Frage, wieso alle dachten, ich hätte Halluzinationen. Doch meine Gedanken steckten in zähem Schlick, am Moorgrund des Sees … und ich war zu müde, um sie an die Oberfläche meines Bewusstseins zu holen.
Ich hätte gerne die Augen geschlossen, aber die Angst, im Traum erneut der toten Mia zu begegnen, hielt mich davon ab. Da wurde ein Glas an meine Lippen gehalten und ein scharfer Geruch nach Anis und anderen Kräutern stieg mir in die Nase.
»Hier, trink den Schnaps, das wird dir guttun«, hörte ich Zeno sagen. Angesichts der stark riechenden Flüssigkeit verzog ich das Gesicht. Allein der Gedanke an Alkohol war mir zuwider. »Komm schon, es hilft«, drängte Zeno und stützte meinen Kopf. Ich hatte keine Wahl.
Während ich das Glas ansetzte, sah ich aus dem Augenwinkel, dass Deva im Schatten der Tür aufgetaucht war und mich aufmerksam beobachtete. Plötzlich hatte ich ein mulmiges Gefühl. Waren sich Mutter und Sohn etwa doch einig, dass ich fantasierte? Und wenn ja, war in dem Glas wirklich nur
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