MoR 05 - Rubikon
König und seine Schwester Arsinoe machten kein Geheimnis aus ihrer Schadenfreude, und Potheinus und Theodotus verbreiteten mit Unterstützung des Generals Achillas überall in Alexandria, die Lebensmittelknappheit sei eine List Kleopatras, um aufständische Elemente der Einwohnerschaft auszuhungern und aus der Stadt zu treiben.
Im Juni schlug das Trio zu, und in Alexandria brach das Chaos aus. Die aufgewiegelten Massen zogen von der Agora zum Palast, wo ihnen Potheinus und Theodotus die Tore öffneten. Als der Mob aber unter Führung von Achillas in den Palast eindrang, war Kleopatra verschwunden. Sofort wurde Arsinoe dem Volk als neue Königin präsentiert, der kleine König versprach Reformen, und das Volk ging wieder nach Hause. Potheinus, Theodotus und Achillas waren zufrieden. Allerdings standen sie vor gewaltigen Schwierigkeiten. Auch sie konnten keine zusätzlichen Lebensmittel beschaffen, und die Macht, die sie an sich gerissen hatten, mußte verteidigt und gehalten werden. Überzeugt, daß der Krieg zwischen Pompeius und Caesar alle Aufmerksamkeit auf sich zog und ein paar Überfälle der Ägypter auf Nachbarländer wenn nicht unbemerkt, so doch bestimmt ungestraft durchgehen würden, schickte Potheinus eine Flotte aus, um die Kornspeicher von Judäa und Phönizien zu plündern.
Ein anderes großes Problem war Kleopatras Verschwinden. Solange sie frei war, würde sie unermüdlich daran arbeiten, die Verschwörer zu stürzen. Wohin aber war sie gegangen? Frühere Ptolemäer, die gestürzt worden waren, hatten das Land mit dem Schiff verlassen, doch die Spione der Verschwörer konnten im Hafen nirgends eine Spur der Königin entdecken.
Kleopatra war auch nicht weggefahren. Sie hatte in Begleitung Charmians, Iras’ und eines großen schwarzen Eunuchen namens Apollodorus den Palast auf dem Rücken eines Esels verlassen, gekleidet wie eine reiche Alexandrinerin. Wenige Stunden bevor der Mob den Palast stürmte, hatten sie das kanopische Tor passiert und sich in Schedia, wo der Kanal des südlich von Alexandria gelegenen Mareotis-Sees in den kanopischen Nilarm des Deltas mündete, an Bord eines kleinen Schiffes begeben, das nach Memphis fuhr. Memphis, das am Beginn des Nildeltas gelegene religiöse Zentrum des Landes, war nur achthundert griechische Stadien von Alexandria entfernt, hundert römische Meilen.
Kleopatra ging am westlichen Nilufer an Land und ritt zum Westtor einer Tempelanlage, die sich über eine halbe Quadratmeile erstreckte. Sie beherbergte den Tempel des Ptah, das Balsamierungshaus des Apis-Stiers, verschiedene Gebäude, die den Priestern und ihren Kulthandlungen dienten, und eine Anzahl kleinerer Tempel zu Ehren der toten Pharaonen. Unter der Anlage erstreckte sich ein ausgedehntes Labyrinth von Räumen, Kammern und unterirdischen Gängen, die bis zu den einige Meilen entfernten Pyramiden führten. Der Teil des Labyrinths, der vom Balsamierungshaus des Apis aus zugänglich war, beherbergte die Mumien sämtlicher Apis-Stiere, die es je gegeben hatte, außerdem mumifizierte Katzen und Ibisse; ein anderer Teil, zugänglich von einem geheimen Raum im Tempel des Ptah aus, beherbergte die Schatzkammer.
Der Hohepriester des Ptah empfing die Königin zusammen mit dem chereb , dem Vorlesepriester, mit seinen Kämmerern und Offizialen und den mete-en-sa , den gewöhnlichen Priestern. Mit unbewegtem Gesicht nahm Kleopatra, kaum fünf römische Fuß groß und nicht schwerer als eineinhalb Talente, die Huldigung entgegen. Zweihundert Männer mit kahlrasiertem Schädel warfen sich vor ihr auf den Boden und preßten die Stirn an die glattpolierten, roten Granitplatten.
»Göttin auf Erden, Tochter des Ra, Inkarnation der Isis, Königin der Könige«, sagte der Hohepriester und erhob sich unter ständigen Verbeugungen. Die anderen Priester blieben auf dem Boden liegen.
»Priester des Ptah, Diener Gottes, Größter der Schauenden und Auge der Königin«, sagte die Pharaonin lächelnd. »Mein lieber Cha’em, ich freue mich, dich zu sehen!«
Cha’em unterschied sich von den anderen Priestern nur durch seinen Halsschmuck. Auch er hatte einen kahlrasierten Kopf und war lediglich mit einem dicken, weißen Leinenrock bekleidet, der knapp unterhalb der Brust begann und weich bis auf die Waden hinabfiel. Der Halsschmuck, schon seit dem ersten Pharao das Rangabzeichen des Hohenpriesters, bestand aus einer breiten, vom Hals bis zur Brust und von Schulter zu Schulter reichenden Goldplatte. Umrandet war die
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