Mord am Millionenhügel
Nahezu automatisch ging die Tür weiter auf. Ich nannte meinen Namen, erinnerte an das Telefonat, das mein »Vorgesetzter« in der vergangenen Woche geführt hatte, und erkundigte mich, ob ich auch nicht ungelegen käme. Frau Morken bat mich hinein.
Sie erschien mir zerbrechlich: eine zierliche, blonde Frau im frühen Mittelalter, ein wenig blaß unter dem dezenten Makeup, das vor allem um die Augen herum die Falten nur unvollkommen verdeckte. Wir gingen durch die weitläufige Diele, in der eine lebensgroße Nachbildung der Aphrodite von Melos in grünem Marmor stand, in das riesige Wohnzimmer. Man war aus dem Gröbsten heraus: sündhaft teure Orientteppiche von insgesamt mehr als 50 Quadratmetern, ein offener Kamin mit einer uralten, echten Platte, eine schwere Sitzgruppe unbestimmten Alters – eine ähnliche hatte ich vor nicht allzu langer Zeit in einem noblen Antiquitätenladen gesehen; der Preis war hoch in den fünfstelligen Zahlen gewesen; einige wunderschöne alte Bauernschränke und Eichenregale; an einer Wand ein echter Manet, an einer anderen eine Reihe von Diplomen und Auszeichnungen, dem geschätzten Freund, Kollegen und Mitarbeiter Morken gewidmete Fotos bedeutender Politiker und so weiter. Jenseits des riesigen, einteiligen Fensters lag die überdachte Veranda, dahinter der Garten oder Park, den ich nun zum ersten Mal sah.
In Anbetracht des angenehmen Wetters bat Frau Morken mich auf die Veranda und entschuldigte sich dann für einige Minuten. Ob ich mit ihr einen Kaffee trinken wollte oder etwas anderes vorzöge?
Während sie den Kaffee zubereitete, betrachtete ich den Garten. Er senkte sich von der linken, oberen Reihe der drei Häuser ein wenig zur rechten Reihe hin; die Entfernung zu den gegenüberliegenden Häusern – oder besser: Villen – mochte etwa 60 Meter betragen. Von den jenseitigen Häusern war nicht viel zu sehen; etwa auf der Hälfte der Entfernung standen hohe Bäume, die ein phantasievoller Mensch vor langen Jahren ohne Rücksicht auf gegenseitige Verträglichkeit oder passendes Ansehen gepflanzt hatte: eine Trauerweide, eine chinesische Sequoia, eine Buche, eine Roßkastanie und eine Eiche. Die Rasenfläche war überall von bunten Beeten durchbrochen. Zweifellos war es möglich, nachts ungesehen von jedem Haus zu jedem anderen zu gelangen; die Bäume, einige Büsche und die zum Teil hochbewachsenen Beete boten ausreichend Schutz gegen jegliches Licht, das der Mond oder erleuchtete Fenster werfen könnten.
Ich nahm den ersten Fragebogenblock aus meiner Tasche und legte ihn samt einem Füller und einem Kuli auf den Verandatisch. Dabei beschäftigte mich ein anderes Problem, das Baltasar als rhetorische Frage in seinen Report aufgenommen hatte, ohne es jedoch beantworten zu können.
Ein Mitglied des Bundestags ohne Bewachung in diesen unruhigen Zeiten war noch erklärbar, denn nicht jeder Hinterbänkler schwebt unaufhörlich in Lebensgefahr, und Emil Morken, MdB, trat nie sonderlich in Erscheinung. Der Bildbericht jener Illustrierten, der Haselmaus Brockmann auf den Abgeordneten und seine Töchter aufmerksam gemacht hatte, war der erste und einzige je über Morken erschienene – soweit wir wußten. Aber Baltasars Bericht enthielt keinerlei Hinweis auf Personal, und mir erschien es zumindest überraschend, daß die Frau eines Abgeordneten selbst Türen öffnet und Interviewern eigenhändig Kaffee zubereitet.
Als Frau Morken sich gesetzt und den Kaffee eingeschenkt hatte, hielt ich meinen kleinen Vortrag, dessen Umrisse ebenfalls Baltasars Hirn enthüpft waren.
»Das Statistische Bundesamt«, log ich wacker, »versucht, mit diesem sorgfältig zusammengestellten Fragenkatalog verschiedene Komplexe zu erfassen. Zum einen geht es um eine Art generelles Stimmungsbild in der Bevölkerung. Unabhängig« – setzte ich lächelnd hinzu – »von den anstehenden Wahlen.«
Frau Morken lächelte ebenfalls und nickte. Aha, dachte ich, erste Runde gewonnen.
»Zweitens soll festgestellt werden, ob es eine allgemeine Übereinstimmung zwischen Bildung, Einkommen, sozialem Status und Ansichten gibt. Wissen Sie«, sagte ich vertraulich, »hinterher werden Sie dann Ergebnisse lesen wie etwa: verheiratete Akademiker mit Segeljachten bevorzugen Kaffee auf der Veranda und die Farbe lila, während ledige Arbeitnehmer Bier im Dunkeln und einen Mallorca-Urlaub sowie verschärftes Demonstrationsrecht billigen.«
Diesmal lachte sie beinahe.
»Ich werde Ihnen eine Reihe persönlicher Fragen stellen,
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