Mord am Mirador (Ein Gomera-Krimi) (German Edition)
gemacht hatte. Aber das war für mich endgültig vorbei. Ich war nicht mehr Jan Westhoff, der Arzt W aus H, sondern Juan Oestecorte, der Winzer.
Kapitel 5
Nach der Aufregung des Tages zog es mich wieder mal hinunter ins Valle Gran Rey. Auch wenn Anita mir verbot, sie in Las Hayas zu besuchen, sagte ich mir jeden Abend aufs Neue, so konnte ja wohl keiner etwas dagegen sagen, wenn ich auf ein Gläschen Wein im Casa Maria vorbeischaute.
Ich wollte sie einfach nur sehen, wollte den Orangenblütenduft atmen, wenn sie an meinem Tisch vorbeiwehte, und sehnte mich danach, ihrer schlanken Figur mit meinen Augen zu folgen.
Doch irgendwie hatte sich an diesem Tag alles gegen mich verschworen. Kaum saß ich an einem der kleinen Tische auf der Terrasse vor dem Lokal, da kam ein hagerer, älterer Mann mit einem Lappen und wischte die Tischfläche ab. Dann fragte er mich nach meiner Bestellung.
Ich gab sie auf und sah, wie er davoneilte. Etwa eine Stunde lang saß ich auf der Terrasse, aß etwas, trank noch mehr Wein, aber Anita war und blieb verschwunden. Mein Gemüt verfinsterte sich zunehmend.
Als die Sonne untergegangen war und es merklich kühl wurde, schnippte ich nach der Bedienung. Während ich dem Kerl das Geld hinzählte, fragte ich ganz beiläufig: „Wo ist denn Anita heute? Nimm es mir nicht übel, aber sie ist eine größere Augenweide, als du.“
Der Alte lachte zahnlos aber gutmütig. „Die ist nicht mehr hier. Und du bist übrigens der hunderttausendste Gast, der mich das heute schon gefragt hat. Sie hat eine neue Stelle.“
„Und wo?“
Der Alte warf einen knochigen Arm aus und zeigte mit dem Finger hoch hinaus in die Berge über dem Valle.
„Dort droben. Sie kellnert jetzt in dem neuen Restaurant unter dem Aquaduct in Arure, am Mirador El Santo.“
Das Restaurant am Mirador El Santo war seit vielen Jahren eine Bauruine gewesen. Jemand hatte vor langer Zeit ein ambitioniertes Projekt begonnen, das aber nie zu Ende geführt worden war. Dann, vor etwa einem halben Jahr, hatte ein reicher Investor, vermutlich vom Festland, das Gebäude aufgekauft und den Innenausbau zügig vorangetrieben. Ganz Gomera war deswegen neugierig und aufgereg t gewesen. Der neue Betreiber, ein Mateo Costa, hatte das neue Restaurant vor einem Monat mit einer großen Feier eröffnet, bei der es Freibier für alle gab.
Diese fand auf dem gepflasterten Platz statt, der gleichzeitig das Dach des Restaurants bildete.Man erreichte diesen Platz, indem man unter einem alten, kühngeschwungenen Aquaduct hindurchging, der nicht mehr genutzt wurde.
Am Ende des Platzes befand sich eine kleine Ermita, eine Kapelle, die vermutlich schon immer den Hauptzweck hatte, dass man darin ein Stoßgebet zum Himmel senden konnte, sei es, dass Gott einen auf dem mühsamen Abstieg in die Täler von Taguluche und Alojera beschützen möge, oder als Dank dafür, dass er einem beim Aufstieg geholfen hatte. Denn der Mirador El Santo hing wie ein Adlersnest in schwindelnder Höhe. Er war kaum zwanzig Meter breit und nur durch eine Mauer vom extrem steilen Hang getrennt, der fast tausend Meter tief ins Tal herabfiel.
Entsprechend atemberaubend war der Blick dort. Wenn man an der Kante stand, konnte man meinen, man säße in einem kleinen Sportflieger und sähe von weit oben auf die Erde herab. Die Häuser von Taguluche waren winzig wie Legosteinchen und das Meer lag wie ein blaues Laken da, auf dem sich weiße, stecknadelgroße Schaumkrönchen befanden. Selbst Menschen, die von sich behaupteten, absolut schwindelfrei zu sein, spürten, wie dieser Anblick ihren Kopf drehen ließ, und rückten lieber etwas von der Kante zurück.
Die Besucher der Feier hatten sich hauptsächlich auf der Terrasse aufgehalten, wo eine Tanzmusik spielte und verschiedene Buden mit Imbissen oder Kunstgewerbe aufwarteten.
Aber keiner hatte es sich nehmen lassen, das Bierglas an die Brust gedrückt, die Stufen der Wendeltreppe herabzusteigen, um den Gastraum ins Visier zu nehmen.
Ich war auch dabei gewesen. Man war durch den großen, äußerst geschmackvoll eingerichteten Speisesaal geschlendert und hatte über den gewaltigen Blick gestaunt, den die Panoramafenster boten. Man hatte seinen Blick über die weiß gedeckten Tische gleiten lassen und die edlen Stiche mit Inselansichten an den Wänden betrachtet. Man hatte gewürdigt, wie die Bilder durch kleine, versteckte Lampen geschickt angestrahlt wurden. Dann war man wieder hinauf auf den Platz gestiegen, hatte noch ein
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