Mord im Atrium
Vertraulichkeit von Dokumenten, wie du weißt.« Bürger in gehobener Position hinterlegten ihre Testamente bei den Vestalinnen zur Aufbewahrung. »Anscheinend ist es ungebührlich für eine Mutter, die Liebesbriefe ihres Sohnes zu lesen.«
»Tja, ich glaube, da würden die meisten Söhne zustimmen.«
»Also wurden sie verbrannt. Gut, dass wir sie los sind.«
Claudia kehrte zurück, daher gingen wir ohne Verzögerung zu einem allgemeineren Gespräch über. »Waren die Vestalinnen bei Gannas Befragung anwesend?«
»Meine Freundin überwachte es. Das war die Bedingung, Marcus.«
»Dagegen ist wohl nichts einzuwenden.«
Julia nahm ein Stück Mandelgebäck von dem Imbisstablett. Sie gestattete sich einen Moment des Nachdenkens.
Nach sechs oder sieben Jahren kannte ich sie gut genug, um ihrem Instinkt zu vertrauen und sie den Rhythmus des Gesprächs vorgeben zu lassen. Für mich war es immer ein bisschen unheimlich, mit meiner Schwiegermutter zu sprechen. Sie und Helena waren sich ähnlich genug, dass ich mich auf vertrautem Terrain fühlte, und doch hatte Helena in vieler Weise mehr von ihrem Vater, und daher blieb Julia rätselhaft.
Claudia, die noch nervöser als sonst wirkte, konnte nicht geduldig warten, sondern platzte heraus: »Was hatte diese Ganna denn nun zu sagen? Ich kenne sie nicht, aber ich glaube, ich hasse sie.«
Im Gegensatz zu ihr wirkte Julia Justa in zunehmendem Maße vernünftig. Anders als am Abend des Festmahls für Saturn, als ihr dünner Fummel die Überhand über sie gewann, war sie jetzt von stoischer Ruhe und beherrschte die Situation. Sie aß ihr Gebäck auf, wischte ein paar Krümel weg und lehnte sich auf ihrem Korbstuhl zurück. »Sie ist nur ein verängstigtes Mädchen, meine Liebe. Du brauchst nicht so abweisend zu sein. Marcus, was deine Angelegenheit betrifft, die Person, die Ganna dabei sah, den abgetrennten Kopf in das Atriumbecken zu legen, war eine Freigelassene namens Phryne.«
»Wie bitte? Nicht der Arzt Mastarna?«
Julia wirkte so erstaunt wie ich. »Anscheinend nicht. Wie kann ein Arzt etwas damit zu tun haben?«
»Er hat seinen Patienten während einer Operation getötet. Trotzdem muss die Freigelassene an der Vertuschung beteiligt gewesen sein, wollte wohl ihre Herrin schützen.« Ich fragte mich jetzt, ob es Mastarna gewesen war, oder ob Phryne Scaevas Kopf abgetrennt hatte. Phryne hatte gegenüber Veleda genug Hass gezeigt. Sie hätte sich das Messer des Arztes schnappen und die Tat ausführen können. »Die Herrin hatte die Operation durchführen lassen, obwohl ihr Mann sie verboten hatte.«
Julia nickte. »Drusilla Gratiana.«
»Du kennst sie?«
»Nein, aber meine vestalische Freundin natürlich.« Die Vestalinnen kennen alle hochrangigen Matronen der römischen Gesellschaft, wobei »hochrangig« normalerweise reich bedeutet, mit mächtigen Ehegatten. Julia bemerkte kühl: »Anscheinend ist es um die Gesundheit der Frau nicht gut bestellt.«
»Sie säuft.«
»O Marcus!« Das kam von Claudia.
»Ist aber wahr, eine Tatsache des Lebens.«
»Bitte! Sie hat gerade unter schrecklichen Umständen ihren Bruder verloren.« Als sie noch in Baetica lebte, hatte Claudia ihren eigenen Bruder durch einen Mord verloren. Sie hatte offensichtliche Gründe für ihr Mitgefühl.
»Verzeih mir.«
»Nun ja, das waren meine Aufträge.« Julia hielt es an der Zeit, mich nach Hause zu scheuchen. »Aber ich bin auch die Überbringerin eines guten Vorschlags. Marcus, könntest du diese Idee bitte Helena nahebringen? Ich weiß, sie plant, dem Kaiser ein Gnadengesuch für Veleda zu unterbreiten. Meine Freundin schlug vor, daraus eine offizielle altmodische Abordnung römischer Matronen zu machen. Sie hat sich sogar freiwillig bereit erklärt, uns zu begleiten. Wenn Helena darauf eingeht, werde ich mich ihr selbstverständlich anschließen.«
»Du meinst, eine Gruppe angesehener Frauen in Schwarz, die ihre Köpfe bedecken und Vespasian mit dem noblen Gesuch konfrontieren, der Seherin Gnade zu erweisen?«
»Genau das«, antwortete Julia. Es klang historisch, aber das letzte Mal, dass diese politische Masche eingesetzt worden war – das volle Programm mit einer Vestalin als Flaggschiff –, hatte sich vor nicht allzu langer Zeit abgespielt, während des Bürgerkriegs, der Vespasian an die Macht gebracht hatte.
Nun zeigte sich, warum Julia vorhin gezögert hatte. Sie wandte sich an ihre Schwiegertochter. »Meine liebe Claudia Rufina, es ist sehr viel verlangt, das weiß ich. Um
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