Mord im Dirnenhaus
die Anklage, die darin zu lesen war, stieß Adelina wie ein Dolchstoß mitten ins Herz.
«Ihr habt gesagt, ich wäre jetzt hier zu Hause. Aber ich will hier nicht bleiben. Es ist hier nicht besser als in Kortrijk. Ihr habt gelogen. Ich will nicht mehr zu den Männern. Ich will nicht, will nicht …»
Griet begann krampfhaft zu schluchzen und krümmte sich erneut zusammen. Adelina konnte gerade noch verhindern, dass die geschundene Hand wieder zwischen die Zähne wanderte.
«Griet, was ist in Kortrijk geschehen?»
Das Schluchzen hörte auf, und nur noch das Zucken des kleinen Körpers verriet die Seelenpein des Mädchens.
Hilflos blickte Adelina auf das Bündel Mensch hinab. «Griet, rede mit mir!» Sie zwang sich zur Ruhe. Böse Worte würden alles nur noch schlimmer machen.
Sanft strich sie Griet über den Kopf, bis sie meinte, eine leichte Entspannung zu spüren. Dann begann sie ruhig zu sprechen. «Ich habe dich nicht angelogen. Du bist jetzt hier zu Hause und in Sicherheit. Niemand wird dir etwas zuleide tun.»
Griet presste ihr Gesicht auf die Matratze, sodass ihre Stimme nur gedämpft zu vernehmen war. «Ihr wolltet doch, dass ich die Männer bediene.»
Adelina schluckte hart. «Ich wollte nur, dass du mir hilfst, die Arzneien in der Apotheke zu verkaufen.»
Sie ließ ihre Hand auf Griets Kopf ruhen und wartete. Einen langen Moment rührte sich Griet nicht, doch dann drehte sie Adelina langsam das Gesicht zu.
Sie sahen einander eine Weile schweigend an, dann fuhr Adelina fort: «Mein Gemahl, Magister Burka, ist dein Vater. Er hat dich von deinem Stiefvater aus Kortrijk weggeholt und in unser Haus gebracht, damit du etwas lernst und ein besseres Leben hast als dort. Wir schicken dich zu den Beginen, damit du lesen und schreiben lernst. Wir geben dir zu essen und ein Bett zum Schlafen.» Adelina ließ ihre Worte wirken, bevor sie fortfuhr: «Du bist erst acht Jahre alt und damit noch ein Kind. Und Kinder brauchen Eltern, die sich um sie kümmern. Das wollen wir gerne tun. Wir möchten dir Wärme geben und Liebe und dafür sorgen, dass es dir an nichts fehlt. Und wenn du folgsam und fleißig bist,kannst du eines Tages deine Gesellenprüfung als Apothekerin machen. Und vielleicht, wenn du ehrgeizig genug bist, schaffst du sogar die Prüfung zur Meisterin. Das alles wollen und können wir dir geben. Aber niemals …
niemals
», betonte sie, «werden wir dich zwingen, mit einem Mann mitzugehen.»
Griet schien über ihre Worte nachzudenken und starrte dabei wieder ins Leere. Adelina war sich nicht sicher, wie viel von ihrer Rede im Kopf des Mädchens angekommen war. Wer konnte schon sagen, welchen Schaden Griet in ihrem jungen Leben bereits an Leib und Seele genommen hatte.
Doch schließlich schien das Mädchen sich zu entspannen und blickte zu ihr auf. «Meine Hand tut weh.»
Adelina nickte. «Das kann ich mir vorstellen.» Sie blickte auf den Beutel in ihrem Schoß, lächelte leicht, als sie ihn öffnete, und zog eine verblichene, jedoch sehr gepflegte Stoffpuppe daraus hervor.
«Hier.» Sie hielt das Spielzeug Griet hin, die es erstaunt anstarrte. Adelinas Lächeln verbreiterte sich. «Nimm sie, ich möchte sie dir schenken. Als kleines Mädchen habe ich damit gespielt, und da du keine Spielsachen besitzt, dachte ich, sie würde dir vielleicht gefallen.»
Zögernd hob Griet die Hand, als traue sie sich nicht, die Puppe zu berühren. Mit einem aufmunternden Nicken drückte Adelina sie ihr in den Arm. «Gib gut acht auf sie. Meine Mutter hat sie einst für mich gemacht.»
Griet strich beinahe ehrfürchtig über das Puppenkleidchen, dann setzte sie die Puppe vorsichtig auf ihr Kissen.
«Danke, Frau Adelina», wisperte sie.
Adelina strich ihr flüchtig über die Wange und standdann entschlossen auf. «Komm mit in die Küche. Ich werde deine Wunden verbinden.»
Sie half Griet, wieder ihr normales Alltagskleid anzuziehen, und forderte sie dann noch einmal auf, ihr zu folgen.
Als sie die Stiege hinabgingen, spürte Adelina, wie sich das Mädchen hinten an ihrem Rock festhielt. Und als sie am Fuß der Treppe angekommen waren, schob sich Griets unverletzte Hand zaghaft in die ihre.
10
Adelina versorgte Griets Hand und schickte das Mädchen hinaus in den Garten, wo sie Magda bei der Ernte der letzten Bohnen helfen sollte. Mira hatte sich unaufgefordert wieder daran gemacht, die Gläser im Hinterzimmer zu polieren. Doch mittlerweile saß Albert bei ihr und half bei der Arbeit. Mira warf Adelina einen
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