Mord in Babelsberg
deutlich, dass Leo gequält wieder die Augen schloss.
Eine Frau am Nebentisch holte aus, um einen völlig verschrumpelten Apfel auf die Bühne zu werfen, und Sonnenschein wollte schon dazwischengehen, was Leo gerade noch verhindern konnte. »Dafür kommen die Leute her«, zischte er. »Das ist kein Fall für die Polizei.«
»Aber …«
Er schüttelte entschieden den Kopf und hoffte inständig, Roberts Jenny möge wenigstens halbwegs begabt sein, wenn man sie schon den Wölfen zum Fraß vorwarf.
»Deine Witze sind so alt, die treten sich auf den Bart«, brüllte ein Mann und sprang erregt auf. Er schaute sich um und dirigierte das Publikum. »Aufhören! Aufhören! Aufhören!«
Der unglückselige Bauchredner klemmte sich den Hut unter den Arm und verschwand samt sprechendem Hasen im Eiltempo von der Bühne.
Wieder erschien der schmierige Conférencier und hob die Hand, bis es still wurde. »Hat es Ihnen immer noch nicht gefallen?«
Ihm scholl ein lautes »Nein!« entgegen.
»Ich hoffe, Sie wollen nicht Ihr Geld zurück. Das werden Sie nämlich nicht bekommen.«
Gelächter. Die Leute bekamen genau das, wofür sie bezahlt hatten.
»Als Nächstes darf ich Ihnen eine junge Sängerin vorstellen, die sich etwas Besonderes für uns ausgedacht hat. Verehrte Gäste – Fräulein Jenny Blau mit ihrem Lied ›Ich möchte ein Bär sein‹!«
Walther starrte wie gebannt auf die Bühne und umklammerte das Sektglas so fest, dass Leo ihn besorgt anschaute.
Dann ging ein Raunen durch den Raum.
Sie war klein und zierlich und hatte eine reizende Figur – soweit man es bei diesem Kostüm erkennen konnte. Es ließ die Beine frei, doch ansonsten steckte sie ganz und gar in einem braunen Pelz mitsamt kleinem Schwänzchen und Öhrchen. Nur ihr Gesicht war zu sehen. Sie stellte sich ans Klavier und gab dem Pianisten ein Zeichen.
Ich möchte ein Bär sein,
das kann doch nicht schwer sein,
ich bräuchte kein Geld,
tu, was mir gefällt.
Die Stimme war gar nicht übel, dachte Leo und schaute sich vorsichtig um. Noch war es ziemlich still im Raum. Er sah, wie sich Roberts Hand am Glas etwas entspannte.
Ich möchte ein Bär sein,
das kann nicht so schwer sein,
dann brumme ich rum,
und niemand nimmt’s krumm.
»Zeig uns mal dein Schwänzchen, Süße!«
Leo sah Sonnenscheins entsetzte Miene und zuckte hilflos mit den Schultern. Jenny drehte sich kokett zur Seite und sang tapfer weiter.
Und bist du mein Freund,
dann kommst du zu mir,
wir brummen zusammen,
dazu noch ein Bier.
»Darf ich mal in deine Höhle?«, rief ein Mann aus der hintersten Ecke. Walther wollte aufspringen, und Leo musste seinen Freund daran hindern, handgreiflich zu werden.
»Bleib sitzen, deine Jenny macht das schon.«
Wie recht er hatte.
Die junge Frau gab dem Pianisten ein Zeichen, eine Pause einzulegen, und rief quer durch den Raum: »Nicht mit der Visage!«
Dann sang sie ungerührt die letzte Strophe:
Lass mich doch dein Bär sein,
wie knorke wär das,
das kann nicht so schwer sein,
und macht Bärenspaß!
Applaus, Johlen, einige obszöne Angebote, aber keine Wurfgeschosse. Immerhin, dachte Leo. Die Sängerin sprang anmutig von der Bühne und kam geradewegs auf ihren Tisch zu, wo sie sich vorbeugte und Walther auf den Mund küsste.
Dann streckte sie Leo die Hand entgegen. »Der Chef, nehme ich an.«
Leo hatte ein Taxi zum Lehrter Bahnhof genommen, stieg dort aus und ging das letzte Stück zu Fuß. Er musste noch immer lächeln, wenn er an Roberts Freundin dachte. Ein reizendes,kluges Mädchen – und nicht unbegabt. Das hatte selbst das gnadenlose Publikum im Continental-Keller gemerkt. Sie hatte noch ein Glas Wein mit ihnen getrunken, bevor Walther sie nach Hause brachte, da sie früh am nächsten Morgen wieder im Blumengeschäft stehen musste.
Es war ein amüsanter Abend gewesen, und Leo hatte jede Minute genossen, gerade weil die letzten Tage nicht einfach gewesen waren. Er erinnerte sich an den Albtraum der vergangenen Nacht und das Gespräch mit Marlens Vater. Es war immer schwer, solche Nachrichten zu überbringen, aber diesmal war es persönlicher als sonst gewesen. Er hatte das Opfer gekannt. Er wollte ihren Mörder finden. Wie konnte es so wenige Hinweise geben, wenn eine Frau inmitten einer Wohnanlage ermordet wurde, in der mehrere Hundert Menschen lebten? War ihr der Täter gefolgt? Hatte er ihre Gewohnheiten studiert und ihr im Schatten aufgelauert, als sie spät nach Hause kam?
Im Gehen schaute er nach oben. Trotz
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