Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
Thomas nicht kann, würde ich auf jeden Fall gern hingehen«, sagte sie rasch. »Vielleicht ist es ja ein Stück, das sich mehrfach anzusehen lohnt.«
Sie hörte, wie Emilys Atem rascher ging. »Ja … ja, das ist es, unbedingt.«
Jetzt war es nicht mehr wichtig, ob sie bald hinginge oder nicht: Die Brücke war geschlagen. »Gut«, fuhr sie fort. »Thomas steckt nämlich im Augenblick bis über beide Ohren in Arbeit und kommt abends oft erst sehr spät nach Hause. Nur gut, dass wir uns in jeder Beziehung auf Minnie Maude verlassen können.«
»Fehlt euch Gracie denn nicht?«, fragte Emily.
»Natürlich, und ob. Aber wie die Dinge liegen, freue ich mich für sie.«
Sie redeten noch eine Weile über Belanglosigkeiten, die jüngsten Veränderungen, die Gracie in ihrem neuen Zuhause vorgenommen hatte, Porzellan, das sie sich gekauft und Charlotte stolz vorgeführt hatte. Auf nichts von all dem kam es im Geringsten an. Es ging nicht um die Worte, sondern ausschließlich um den Ton, in dem sie gesagt wurden, und das war den beiden Schwestern bewusst. Noch während Charlotte sprach, verdichtete sich ihre Vermutung zur Gewissheit, dass Emily vor etwas Angst hatte. Der frisch hergestellte Friede zwischen ihnen war noch zu wenig tragfähig, als dass sie nach dem Grund dafür hätte fragen dürfen, und so beendete sie das Gespräch munter mit einer albernen Geschichte über eine gemeinsame Bekannte, sodass Emily schließlich lachend den Hörer aufhängte.
Charlotte aber sah sich außerstande, die Sache einfach auf sich beruhen zu lassen, und so ging sie ins Wohnzimmer, um Pitt ihre Befürchtung mitzuteilen.
»Emily hat eben angerufen«, begann sie. »Sie war ausgesprochen umgänglich. Wir haben unsere früheren Differenzen mit keinem Wort erwähnt.«
Er wartete darauf, dass sie weitersprach, denn ihm war klar, dass das lediglich die Einleitung war.
»Sie hat auch Jack nicht erwähnt«, fuhr Charlotte fort. »Das tut sie zwar auch nicht jedes Mal … aber … Sieh mich nicht so nachsichtig an! Ich glaube, sie macht sich Sorgen, wenn sie nicht sogar Angst hat. Hat die Sache, an der du gerade arbeitest, in irgendeiner Weise mit Jack zu tun? Begeht er gerade einen Fehler?«
»Davon weiß ich nichts«, sagte er ruhig. »Ich will mich damit nicht vor einer Antwort drücken – ich weiß es wirklich nicht.«
»Und würdest du es mir sagen, wenn du es wüsstest?«, fragte sie, unsicher, welche Antwort sie hören wollte.
Er lächelte. Er kannte sie nur allzu gut. »Nein. Dann würdest du dich schuldig fühlen, weil du das Emily nicht weitersagen dürftest. Da wäre es schon besser, wenn sie hinterher mir Vorwürfe machte.«
»Thomas …?«
»Ich weiß es nicht«, wiederholte er. »Ehrlich. Vielleicht bin ja ich derjenige, der einen Fehler begeht. Allerdings ist mir nicht einmal klar, in Bezug worauf. Es gibt nichts, was du Emily mit reinem Gewissen sagen könntest.«
Sie hätte ihn gern gefragt, ob er mit dem Fall gut vorankomme, wusste aber nicht, wie sie das anstellen sollte. Sie würde ihm keine Hilfe sein, auch wenn sie wie ein Kind an ihn glaubte. Sie zwang sich zu lächeln, sah die Erleichterung in seinen Augen und merkte im nächsten Moment, dass sie den Ausdruck richtig gedeutet hatte.
Sie lachten gemeinsam, aber es klang ein wenig zittrig. Zu sehr waren sie sich all dessen bewusst, was nicht gesagt werden durfte.
KAPITEL 10
Stoker schritt in Pitts Büro unruhig auf und ab, den Wollschal wie immer um den Hals gewickelt und die Hände tief in die Taschen geschoben. Auf dem Fensterbrett hinter ihm lag eine dünne Schicht Schnee. Die fallenden Flocken waren vor dem bleifarbenen Himmel nahezu unsichtbar. In sechs Tagen würde Herzog Alois in Dover an Land gehen.
»Inzwischen steht fest, dass es tatsächlich Staum ist«, sagte er, blieb stehen und sah Pitt an. »Ich habe ein Foto von ihm gesehen.«
»Und was ist mit dem Straßenreiniger, der diese Arbeit früher gemacht hat?«, erkundigte sich Pitt.
»Der hat einen längeren Urlaub genommen«, gab Stoker zurück. »Er hat gesagt, er hätte von einem verstorbenen Angehörigen etwas geerbt und wolle eine Weile fortgehen. Staum hat sich als Erster auf die Stelle beworben und sie bekommen, nachdem auch an den nächsten zwei oder drei Tagen sonst niemand sie haben wollte. Ich weiß nicht, wie viel Geld dabei geflossen ist.« Er verzog angewidert das Gesicht. »Vielleicht war gar nicht viel nötig.« Er zuckte leicht zusammen. »Andererseits würde Staum, wie ich ihn
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