Mord in Tarsis
ich mich«, bestätigte Nistur, »aber dieser Gedanke kam mir nicht.«
»Stimmt«, sagte Eisenholz, »mir auch nicht. Gut gemacht, Muschelring.«
»Kannst du es für mich aufzeichnen?« fragte Stunbog. Er reichte ihr ein Stück Pergament und einen Holzkohlestift. Mit der Zungenspitze im Mundwinkel begann Muschelring ungeübt zu zeichnen. Als sie fertig war, schob sie dem Heiler ihr Bild über den Tisch.
»Da. Es sah nicht exakt so aus, aber ich denke, es ist nahe dran.«
Nistur blinzelte auf das schnell hingeworfene Muster mit seinen zahlreichen Querverbindungen und miteinander verzahnten Linien. »Ja, das ist ungefähr das, woran ich mich erinnern kann. Ich wünschte nur, ich hätte besser aufgepaßt.« Eisenholz nickte zustimmend.
Stunbog überlegte eine Weile. »Ich erkenne es nicht, aber es gibt so viele. Es sieht nicht wie ein Schutzzauber aus, was verwunderlich ist. Myrsa, hol mir doch bitte meine Sammlung über Siegel und Talismane herunter. Es ist der dicke Band dort oben auf dem Regal, zwischen der Retorte und dem Kristallmörser.«
Myrsa nahm den schweren Band herunter und legte ihn vor Stunbog. Er schlug die erste Seite auf. Es waren mindestens fünfundzwanzig geheimnisvolle Symbole auf der Seite, und unter jedem standen mehrere Zeilen in winziger Schrift.
»Ist jede Seite wie diese?« fragte Nistur entgeistert.
»Ja«, sagte Stunbog. »Auf manchen Seiten stehen sogar noch mehr. Garlaks Katalog der Siegel ist ein äußerst geschätztes Standardnachschlagewerk. Hier drin sind über fünfzehntausend Siegel aufgeführt.«
»Dann kann unsere Aufgabe lange beendet sein, so oder so, bevor du fündig wirst«, meinte Eisenholz bitter.
»Und dennoch will ich es versuchen«, sagte Stunbog. »Ich glaube, Muschelring hat etwas bemerkt, das wichtig sein könnte. Die Suche ist nicht so hoffnungslos, wie sie aussieht. Die Siegel hier sind nach bestimmten unterschiedlichen Merkmalen geordnet. Mit einer exakten Kopie des Siegels, das ihr gesehen habt, könnte ich es schnell ausfindig machen. Aber mit etwas Zeit mag diese ungefähre Zeichnung ausreichen.«
»Das wollen wir hoffen«, sagte Nistur. »Die Stunde der Entscheidung naht in Riesenschritten.«
9
Sie eilten durch die Straßen von Tarsis, die von kaltem Wind durchpeitscht wurden. Der Himmel war noch hell, die untergehende Sonne ließ die Unterseite einiger hochstehender Wolken rot erglühen, doch die Straßen waren in tiefe Schatten getaucht.
»Wir sind zu lange in dieser Taverne geblieben«, sorgte sich Muschelring. »Wir kommen zu spät zum Palast.«
Nistur rülpste leicht. »Ich werde dem Fürsten von Tarsis nicht mit leerem Magen gegenübertreten. Ein paar Bier machen sein mißmutiges Gesicht erträglicher.«
»Wir werden uns sowieso ein paar Stunden in einem Vorraum die Beine in den Bauch stehen, bevor er sich herabläßt, uns aufzurufen«, grollte Eisenholz. »So ist das doch immer mit diesen hohen Herren.«
Zu ihrer Überraschung wurden sie vor den Fürsten geführt, sobald sie den Fuß über die Palastschwelle gesetzt hatten.
»Ich hätte daran denken sollen«, murmelte Nistur in sich hinein, als sie einen langen Gang entlanggeführt wurden. »Der Fürst von Tarsis ist nur ein aufgestiegener Kaufmann. Solche Leute achten ungeheuer auf Pünktlichkeit.«
»Ihr kommt zu spät«, stellte der Fürst bei ihrer Ankunft fest.
»Unser Dienst ist mühsam«, sagte Nistur. »Unsere Anstrengungen, Euren Auftrag zu erfüllen, haben uns ungewöhnlich auf Trab gehalten.«
»Dann müßt ihr lernen, eure Zeit besser zu nutzen«, ermahnte sie der Fürst. »Was habt ihr zu berichten?«
Geduldig erzählte Nistur, was bei ihren Gesprächen mit den Barbaren herausgekommen war. Der Fürst lauschte seinem Bericht mit erheblich weniger Geduld.
»Ihr habt einen ganzen Tag verschwendet!« rief er, als Nistur geendet hatte.
»Wie bitte? Mein persönlicher Eindruck war, daß wir viel Wertvolles in Erfahrung gebracht haben.« Nistur war ausgesprochen verdutzt, daß ihre Anstrengungen so abgetan wurden.
»Vergeßt die Barbaren! Selbst wenn einer von ihnen den Mord begangen hat, würde Kyaga dies niemals zugeben. Ich will, daß ihr euch auf bestimmte Adlige dieser Stadt konzentriert. Hier ist eine Liste mit ihren Namen und Adressen.«
»Ihr meint, Herr«, folgerte Nistur, »daß Ihr es vorziehen würdet, wenn der Mörder ein tarsianischer Adliger ist?«
»Ich muß schließlich gerecht und unparteiisch sein«, sagte der Fürst.
Eisenholz warf über die Schulter
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