Mord in Tarsis
erfordert, ihn sich zu verdienen. Sie sind leicht zu Herausforderungen zu verführen, die ihre Erfahrung weit übersteigen, wenn sie damit diesen Pfad abkürzen können. So etwas führt oft zum Tod oder zu einer Katastrophe.«
»Ich verstehe«, versicherte sie ihm.
»Also brachen wir auf. Wir hatten beide gute Pferde. Ich hatte eine Lanze und das Langschwert meines Großvaters, aber nur die schäbige Rüstung, in der ich trainiert hatte, denn meine Familie wollte mir keinen neuen Harnisch anfertigen lassen, bevor sie sicher war, daß ich nicht mehr wachsen würde. Dennoch fühlte ich mich Zoll für Zoll als Held.
Als wir dem Schlupfwinkel des Drachen näher kamen, hörten wir zum ersten Mal Genaueres über ihn. Es war eindeutig ein junger, denn er hatte seinen Schlupfwinkel erst vor etwa einem Jahr bezogen. Boreas fand diese Nachricht enttäuschend, denn sie bedeutete, daß der Drache noch keinen großen Schatz angehäuft haben konnte. Wie ich schon sagte, lag mir nichts an dem Schatz, und ich fand die Nachrichten beruhigend. Während unserer Reise hatte ich festgestellt, daß schreckliche Zweifel meine hohen Ambitionen untergruben. War ich Krieger genug, um einen großen Wyrm zu töten? Ein Wesen, das vielleicht eine Armee von Helden abschlachten würde, bis es seine volle Größe erreicht hatte? Deshalb war ich erleichtert. Bestimmt, dachte ich, konnte ich mit einem noch sehr jungen Drachen fertigwerden. Und jede Art von getötetem Drachen würde mich als Helden ausweisen, schien mir.
Eines Tages befanden wir uns in einem Dorf am Fuß der Berge, einer dicht geschlossenen Reihe von drei parallel verlaufenden Bergzügen. Die Dorfbewohner sagten uns, daß ihre Straße uns zum nächsten Paß durch die Berge bringen würde. Das Versteck des Drachen lag an einem Hang hoch über dem Paß in der Mitte des zweiten Bergzugs. Sie erzählten uns von einem Bergsee, der von dichtem Wald umgeben war, und im Schatten dieses Waldes lauerte der Drache und stürzte sich mitunter auf Reisende, die vorbeizogen.
Sie waren überglücklich, uns zu sehen, denn der Drache hatte sie viel von ihrem Karawanenhandel gekostet. Händler und andere Reisende mieden den Paß bereits, und einmal hatte sich der Drache sogar dem Dorf genähert und einen Schäfer davongetragen. Wir wurden verwöhnt und gepriesen, als wären wir bereits Helden. Ja, wir fanden die Gastfreundschaft dieser Menschen so angenehm, daß wir fünf oder sechs Tage in ihrem Dorf blieben, bis sie langsam andeuteten, daß es Zeit wurde, zu unserem eigentlichen Geschäft aufzubrechen. Also ritten wir unter Gesang und von Blumen überhäuft aus dem Dorf und schlugen die Straße in die Berge ein.« Er nahm seinen neugefüllten Becher und trank. Dann schwieg er eine Zeitlang.
»Und?« fragte Muschelring ungeduldig. »Was geschah danach?«
»Ich erinnere mich nicht mehr daran«, sagte Eisenholz.
»Wie?« rief sie ungläubig. »Du ziehst aus und tötest einen Drachen, und dann erinnerst du dich nicht mehr? Da hab’ ich Richtern aber schon bessere Lügen erzählt!«
»Laß ihn seine Geschichte auf seine eigene Weise erzählen«, sagte Nistur begütigend.
»Doch, es ist wahr, an die nächsten drei Tage erinnere ich mich nicht. Jedenfalls glaube ich, daß es drei Tage waren. Was ich noch weiß, ist, daß ich auf einem eisbedeckten Hang erwachte und furchtbare Schmerzen hatte.« Seine Augen wirkten gehetzt. Man sah, daß dies seine lebhafteste und wohl auch schmerzhafteste Erinnerung war.
»Ich war allein. Das Schwert meines Großvaters war verschwunden. Meine Rüstung war zerrissen und mein rechter Oberschenkel zerfleischt. Voll Entsetzen sah ich, wie die Rüstung zerfetzt und das Fleisch bis zu den Knochen aufgerissen worden war. Überall um mich herum war Blut, und eine Blutspur führte den Hang hinauf. Alles, was ich denken konnte, war, daß ich allein war. Was war aus Boreas geworden? Ich war sicher, daß die Antwort am Ende dieser Spur aus meinem eigenen Blut lag.
Also stand ich mühsam auf, und ich sage euch, ich habe niemals zuvor und niemals danach etwas so Schreckliches erlebt. Die Schmerzen in meinem Körper waren furchtbar, ich war schwach, und mir war schwindlig vom Blutverlust. Ich hatte nichts, auf das ich mich hätte stützen können, und mein rechtes Bein konnte ich kaum belasten. Ich mußte Stückchen für Stückchen hinken, und dann floß das Blut wieder aus meinen Wunden. Daher und weil das Blut auf dem Boden fast schwarz war, wußte ich, daß ich viele
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