Mord in Tarsis
Stunden, vielleicht sogar mehr als einen Tag bewußtlos gewesen war.
Ganz oben auf dem Hang bot sich mir ein sehr seltsamer Anblick: ein dichter Wald in einer Senke von mehreren hundert Metern Durchmesser, der vollständig in dichten Nebel gehüllt war. Im Wald fand ich einen abgebrochenen Ast, den ich als Stab benutzen konnte, und danach fiel mir das Gehen etwas leichter. Auf dem Teppich aus alten Piniennadeln war mein Blut nicht so leicht zu sehen wie zuvor im Schnee. Obwohl die Schmerzen mich benommen machten, merkte ich, daß es im Wald viel wärmer war als draußen an den Berghängen.
Der Weg durch den Wald war nicht weit, aber es war eine der längsten Reisen, die ich je unternommen habe. Ich konnte nicht mehr als zwei oder drei Schritte machen, bevor ich wieder eine Pause einlegen mußte. Die ganze Zeit kämpfte ich gegen Schwindel und Übelkeit an. Um ehrlich zu sein, ich dachte, ich würde sterben. Aber ich mußte erfahren, was aus meinem Freund geworden war, bevor ich aufgeben durfte.
Nach einer scheinbaren Ewigkeit erreichte ich den kleinen See in der Mitte des Waldes. Von dem See stieg der Nebel auf. Ich tauchte meine Hand in das Wasser und stellte fest, daß es sehr warm war, beinahe heiß. Zweifellos wurde er von heißen Quellen aus unterirdischen Tiefen gespeist, und es war der See, der einen so dichten Wald in diesen kalten Bergen erhielt. Ich habe nie erfahren, wo der Abfluß war, denn es führte kein Bach oder Fluß von ihm weg. Ich streifte meine jetzt nutzlose Rüstung ab und blieb eine Zeitlang dort, um auszuruhen und meine Wunden zu waschen.
Das Wasser schien heilende oder wenigstens lindernde Kräfte zu haben, denn nach dem Baden ging es mir viel besser. Meine Wunden hatten aufgehört zu bluten, und die Schmerzen waren auf ein erträgliches Maß zurückgegangen. Ich nahm meinen Stab und humpelte los, rund um den See. Mit der Zeit kam ich an eine Felsnase, die aus einem steilen, steinigen Hang herausragte und in den See hinein abfiel. Wo Wasser und Stein sich trafen, befand sich ein Riß, und sobald ich den Riß im Gestein sah, wußte ich, daß dort die Drachenhöhle liegen mußte.«
Er machte eine Pause, während der die alten Zwergenfrauen die Teller abräumten und ihnen nachschenkten. Seine Gefährten warteten mit kaum verhohlener Ungeduld. Er nahm einen neuen Schluck aus seinem Bierbecher und verzog das Gesicht.
»Ich habe seit Jahren nicht mehr so viel geredet. Macht die Kehle trocken.«
»Aber es ist gut für die Seele«, sagte Nistur. »Bitte, sprich weiter.«
»Ja, was geschah danach?« drängte Muschelring.
»Später«, sagte Eisenholz, »erfuhr ich, daß Schwarze Drachen gewöhnlich in den Niederungen anzutreffen sind. Sie lieben Sümpfe und dichte Wälder. Dieser hier mußte gerade das Nest verlassen haben, um eine eigene Höhle und ein eigenes Territorium zu suchen. Vielleicht war er am Ende seiner Kräfte, als er diesen ungewöhnlichen, heißen See mit dem Wald und der Höhle erblickte. Er mußte beschlossen haben, daß dies als erste Zuflucht ausreichen würde. Sobald er wieder bei Kräften war, begann er mit seinen Raubzügen.
Aber davon wußte ich damals überhaupt nichts. Ich wußte nur, daß ich Boreas finden mußte. Also watete ich unbewaffnet und praktisch nackt erneut in den See und ging durch das flache Uferwasser zur Höhle.« Sein Mund verzog sich zu einem säuerlichen Lächeln. »Trotz meiner Angst fand ich den Geruch darin ekelerregend. In Erzählungen hört man immer von großen Drachen, die auf ihren Schatzhaufen liegen. In solchen Geschichten ist die Drachenhöhle in einen Palast verwandelt. Laßt euch von mir sagen, daß dies auf einen jungen Drachen, der nur auf Fressen und Wachsen aus ist, nicht zutrifft. Ich kam an Kadaverstücken vorbei, vor allem von Schafen und Pferden, aber einige konnten auch von Menschen stammen. Alle rochen gleich schlecht. Weit hinten in der Höhle fand ich den Drachen.«
Er holte tief Luft. Die anderen schienen den Atem anzuhalten.
»Er war tot, und man sah überall Spuren eines schrecklichen Kampfes. Ich entdeckte Fetzen meiner eigenen Rüstung und – ohne Zweifel – von mir, die in der Höhle herumlagen. Der Drache lag auf dem Sandboden. Er hatte eine Reihe gräßlicher Stichwunden. Mein zerbrochener Speer fand sich ganz in der Nähe, ebenso das Schwert meines Großvaters, das jetzt wie ein Stück Draht verbogen war. Auf dem ganzen Boden mischte sich Menschen- mit Drachenblut.
Der Drache war ungefähr so groß wie ein
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