Mord nach Drehbuch
Kühlschrank sieht neuer aus. Ein einziges Fenster und eine Tür, die auf einen Balkon hinausgeht. Nelly tritt hinaus, blickt hinunter, und ihr stockt der Atem. Der Innenhof ist ein finsteres, bodenloses Loch. Auf der einen Seite wird die sechste Etageum drei weitere überragt – war die sechste nicht die letzte? Dazu geht es mehrere Stockwerke tief in den Bauch der Erde hinab, bis weit unterhalb des Straßenniveaus, von dem aus Nelly das Haus betreten hat. Ein graues Wetterdach verdeckt den Himmel. Balkons und Eisenstiegen, überall liegt altes Zeug herum, eine Haushaltshölle, in der Generationen von Bediensteten gedarbt haben.
»Beeindruckend, nicht?« Sandra ist unbemerkt neben sie getreten.
»Das kannst du laut sagen.«
Sehnsüchtig denkt Nelly an ihre kleine Terrasse und kann es gar nicht abwarten, endlich von hier zu verschwinden. Doch die beiden Frauen führen sie in ein schummriges Schlafzimmer, fernab vom Rest des Hauses. Einsam, riesig und schlecht beheizt. Unangenehmer Uringeruch liegt in der Luft. Maria Grazia blickt sie entschuldigend an. Im Ehebett erkennt Nelly einen zusammengekauerten Schemen. Auf der Kommode allerlei medizinische Instrumente, Arzneimittel, ein Blutdruckmessgerät. Auf einem Stuhl eine mit einem Handtuch zugedeckte Bettpfanne.
»Seit drei Jahren ist Mama in diesem Zustand. Nach ihrem Schlaganfall hat sie sich nicht mehr erholt. Manchmal geht es ihr ganz gut, dann kriegt sie mit, was um sie herum passiert, und versucht, etwas zu sagen. Ich tue für sie, was ich nur kann.«
Nelly denkt, in so einem Zustand wäre es besser, gar nichts mehr mitzukriegen, doch sie nickt.
»Und was halten Sie von den Drohbriefen, Maria Grazia? Hier sind die doch auch angekommen, nicht wahr?«
Maria Grazia zieht die Schultern hoch und presst die Lippen zusammen.
»Ich habe dazu keine Meinung. Natürlich ist das sehr merkwürdig. Seit Papa gestorben ist, hängt der Familiensegen schief. Er hat die Kinder zusammengehalten. Er war ein ganz besonderer Mensch, wissen Sie? Sehr stark.«
Marilena ist im Flur aufgetaucht und hat den letzten Satzmitbekommen. Mit einem spöttischen kleinen Lachen gesellt sie sich zu Nelly und den anderen beiden.
»Unsere kleine Magraja lobt Papa mal wieder in den Himmel. Ihr geliebter Papi … Liebe Dottoressa Rosso – darf ich Sie Nelly nennen?« – »Bitte.« Nellys Blick fällt auf die speckige Hand mit den kurzen, schwarz lackierten Nägeln, die sich ihr auf den Arm legt und sie zu einer Seitentür zieht, während Maria Grazia wie erstarrt dasteht und sofort kapiert hat, dass die Schwester sie bei der Unterredung mit dem Gast nicht dabeihaben will.
»Sie müssen nicht glauben, dass wir alle völlig durchgedreht sind, Nelly. Wir sind eine ganz normale Familie, oder vielmehr, wenn man unsere Lebensläufe ansieht, meinen, Anselmos, Alceos, durchaus über dem Durchschnitt. Anselmos plötzlicher, sinnloser Tod hat uns tief erschüttert, Alceo mehr als alle anderen. Und was Giancarlo angeht, so war der schon immer neidisch auf seinen Vater. Er hat nichts auf die Reihe gekriegt, wissen Sie? Er hat die Uni nicht fertiggemacht, dabei ist er gar nicht blöd. Nur dass er mit zwanzig plötzlich diese Krisen bekommen hat … Nun ja, er leidet an Schizophrenie. Mit Medikamenten kriegt man die Krankheit zwar in den Griff, aber mehr erreicht man im Leben nicht, nicht wahr?«
Mit zur Seite geneigtem Kopf beobachtet sie die Wirkung ihrer Worte.
»Wie traurig für ihn. Und seine Freundin? Wieso hat sie ihn verlassen?«
»Na, deswegen, nicht wahr? Wenn Sie wüssten, wie der wird, wenn er nicht dauernd unter Kontrolle ist. Den müsste man einliefern. Die arme Gioia hat das einfach nicht mehr ausgehalten, von wegen Affäre mit meinem Bruder Anselmo. Er ist nicht nur schizophren, sondern auch paranoid, überall sieht er Feinde, Fallen, Hinterhalte. Dass seine Mutter Psychopharmaka nimmt, liegt ganz bestimmt nicht an meinem Bruder.«
Nelly wartet, bis Marilena Luft holt, um in ihren Wortschwall eine Frage einzuschieben.
»Könnte Giancarlo dem Vater etwas angetan haben? Vielleicht die anonymen Briefe geschrieben haben?«
Marilena Pizzi verzieht das Gesicht.
»Keine Ahnung, aber ich glaube nicht. Bisher ist er nie gewalttätig gewesen. Und was die Briefe betrifft, weiß ich nicht, was ich denken soll, Nelly. Vielleicht ist es einfältig, sich aufzuregen und einschüchtern zu lassen, und die Briefe sind nur ein dummer Scherz, wie Alceo behauptet und wie auch ihr Kollege,
Weitere Kostenlose Bücher