Mord zur Geisterstunde
Pläne mussten jetzt zurückstehen, zum Beispiel Honeys Vergnügen des Monats – der Einkauf eines schicken Paar Schuhe, das sie bei Jollys gesehen hatte. Nicht zu spitz, keine allzu hohen Absätze, zum richtigen Preis, genau was sie suchte. Doch jetzt war es wesentlich wichtiger, ihre Mutter bei Laune zu halten – insbesondere, wenn das bedeutete, dass sie |141| sich nicht in unmittelbarer Nähe des Green River Hotels einnistete. Das hatte absolute Toppriorität!
Honey schnappte sich ihre Autoschlüssel.
»Also, dann los.«
»Ich warne dich. Bei William Wallace kann ein Mädchen wirklich weiche Knie bekommen.«
»Dieses Mädchen hier nicht«, sagte Honey entschlossen und fügte im Geist hinzu: »Es sei denn, Mel Gibson spielt ihn und trägt einen Kilt.«
»Bei dem schon.«
Honey schaute ihre Mutter an. Sie hatte einen verträumten Zug um die Augen. Das konnte nur eines heißen. »Nein, das hast du nicht!«
Gloria zuckte die Achseln. »Ich bin alt genug, um zu wissen, was ich will.«
Steve Doherty rief an, als Honey gerade ihren Sicherheitsgurt einhakte.
»Was gibt’s Neues?«, erkundigte sie sich.
»Nicht viel. Wir warten noch darauf, dass sich die Eigentümer des leerstehenden Ladens melden, in dem wir die Tote gefunden haben. Die Räumlichkeiten sollen wohl renoviert werden. Ich habe die Leute gebeten, mir eine Liste der Firmen zu geben, die vielleicht in den letzten paar Tagen dort gearbeitet haben. Was machst du gerade?«
Honey erklärte die Sache mit dem Laden ihrer Mutter. »Wir sind auf dem Weg zu Mr. Wallace von Wallace & Gates. Denen gehört der Laden, den meine Mutter gemietet hat.«
»Das ist aber mal ein Zufall. Die sind auch die Eigentümer des Geschäfts mit der toten Lady.«
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Das Büro von Wallace & Gates Holdings befand sich in einem umgebauten Lagerhaus mit Blick auf den Fluss. Was früher einmal Getreidesilos gewesen waren, die aus dem Wasser ragten, hatte man nun zu Türmen aus Rauchglas und Edelstahl umgebaut. Eine futuristisch aussehende Röhre mit einem Fahrstuhl klebte an der Ecke des Gebäudes, die dem Fluss am nächsten war. Landschaftsarchitekten hatten den ehemaligen Autofriedhof umgestaltet, wo früher nur Müll und Wellblech gelagert hatten.
Gloria Cross schaute mit kindlichem Vergnügen auf die Raumkapsel mit dem Lift. »Können wir mit dem da fahren?«
»Wir sind nicht zum Vergnügen hier, Mutter.«
»Aber geschadet hätte es doch nichts.« Gloria setzte sofort wieder ihren pikierten Blick auf. Honey hatte für derlei Mätzchen überhaupt nichts übrig. Sie hatte schließlich ein Hotel zu leiten, Herrgott noch mal! Und einen Mörder zu fangen – wenn sie gerade einmal nicht mit der Tageskarte oder verstopften Wasserrohren beschäftigt war.
Die Tochter führte die Mutter durch die in Kupfer gefassten großen Glastüren des Haupteingangs. »Ich glaube, wir sollten erst einmal herausfinden, ob Mr. Wallace überhaupt da ist und Besucher empfängt.«
Man hatte verschiedene mit Edelstahl und Glas abgetrennte Räume in das Gebäude eingepasst. Sie bildeten einen eleganten Kontrast zu den Ziegelmauern aus viktorianischer Zeit und den gusseisernen Säulen. Im hellen Tageslicht, das durch die großen Glasflächen strömte, wirkte der Marmorfußboden beinahe wie die Oberfläche einer Flüssigkeit. Hier glänzte und schimmerte alles. Hier regierte das Design. Das historische Gebäude hatte sich ein silbernes Flitterkleid angelegt.
|143| Auch die Empfangsdame bildete keine Ausnahme. Sie war groß und braungebrannt und hatte das Haar straff zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der sich elegant an ihren Nacken schmiegte. Sie trug ein anthrazitfarbenes Kostüm und eine blendend weiße Bluse mit einer roten Emailbrosche am Revers: WGH. Das Firmenlogo.
Honey gratulierte sich im Stillen, dass sie ein schickes marineblaues Kleid trug, dazu eine beinahe taillenlange Goldkette. Das Kleid war wadenlang und auf Figur gearbeitet. Es hatte lange Ärmel mit schmalen Manschetten. Honey fühlte sich darin immer gut – ach was, wirklich glamourös. Der Schnitt ließ die Taille schmaler wirken, Hüften und Busen wohlproportioniert erscheinen. Honey hatte sogar marineblaue Strümpfe angezogen, passend zum Kleid.
Strahlend vor Selbstbewusstsein erklärte sie, warum sie gekommen waren und wen sie sprechen wollten.
»Tut mir leid«, antwortete die Empfangsdame und zeigte ihre blitzenden, ultraweißen Zähne. »Mr. Wallace Senior ist vor einiger Zeit erkrankt. Sein Sohn,
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