Mord zur Geisterstunde
schmale Einfahrt führte zu einer baufälligen Wellblechgarage mit betoniertem Vorplatz. Bisher hatten keine modernen Baufanatiker das Haus verunstaltet. Noch hatte niemand die schönen alten Fenster herausgerissen oder die Bleiplatten vom Schieferdach verscherbelt.
Der kleine Garten quoll über vor altmodischen Blumen: Frauenmantel, Fingerhut, großblumigen Rosen und Lavendel. Draußen parkte ein Auto, das wie ein Mietwagen aussah. Mary Jane stellte ihren Cadillac so nah daneben ab, dass sie die schmale Straße nicht versperrte.
Honey rutschte über die Rückbank und stieg bei der rechten Tür aus. Lindsey schlängelte sich vom rechten Beifahrersitz nach draußen. Diesmal war Mary Jane nicht sonderlich erpicht darauf, im Auto sitzen zu bleiben. Beherzt kletterte sie über den Getriebetunnel und stieg ebenfalls rechts aus.
An einem Fenster des Häuschens tauchte ein Gesicht auf, das sogleich wieder verschwand.
|202| Honey bat die beiden anderen, noch zurückzubleiben. Sie wollte zunächst allein zum Haus gehen. Lindsey und Mary Jane fügten sich nur widerwillig.
»Ich könnte als Assistentin mitkommen«, sagte Lindsey mit gerunzelter Stirn. »Du weißt nie, wann du mal jemanden brauchst, der eine Tür eintritt oder einen Gegner zu Boden ringt.«
»Das könnte ich allerdings nicht«, meinte Mary Jane kopfschüttelnd. »Körperliche Sachen – so was habe ich schon Jahre nicht mehr gemacht.«
Honey und Lindsey schauten sie fragend an und hofften auf weitere Erklärungen. Sie hofften vergebens.
»Also?«, hakte Lindsey nach.
»Also nichts«, beharrte Honey. »Ich finde, drei sind zu viel, zwei sind nicht nötig. Da ich Mr. George bereits kenne, glaube ich nicht, dass es Schwierigkeiten geben wird. Also reicht eine Person vollauf.«
Wie schon in Northend wies sie Mary an, bloß jeden aufzuhalten, der vielleicht weglaufen wollte.
Das Haus war kürzlich renoviert worden, besaß also eine Türklingel. Die war zwar nicht so aufreizend wie die nackte Nymphe in Northend, dafür aber wesentlich effektiver. Die Gestalt am Fenster war nicht gekommen, um die Tür zu öffnen. Also klingelte Honey. Im oberen Teil hatte die Tür ein Fenster mit Bleiglas in einem Blättermuster. Nun fiel aus dem Flur ein Schatten auf die Scheiben und änderte das Muster.
Plötzlich hatte Honey ein mulmiges Gefühl. Der Schatten war ein wenig zu schmal, als dass es Mrs. George hätte sein können. Die hatte sie als recht stämmig in Erinnerung. Eine Blitzdiät? Nein, das kam nicht in Frage, denn so schnell konnte niemand so viel abnehmen.
Sie zwang sich ein freundliches Lächeln auf die Gesichtszüge. Die Tür ging auf. Das Lächeln gefror ihr auf den Lippen. Das hatte sie nun wirklich nicht erwartet. Vor ihr stand eine Frau in einem hautengen seidigen silbergrauen Gewand. Die großen braunen Augen blickten verwundert. Glattes, honigbraunes Haar rahmte ein Gesicht ein, an das sich Honey vage erinnerte.
|203| Sie runzelte die Stirn und tat so, als hätte sie die Frau nicht erkannt. »Kenne ich Sie?«
Eine leichte Röte überzog die bleichen Wangen. Die Frau duftete nach einem blumigen Parfüm. Früher hatte sie nach nassem Regenschirm gerochen. Was zum Teufel ging hier vor? Die schamroten Wangen ließen darauf schließen, dass auch die junge Dame Honey wiedererkannt hatte.
Vielleicht war es das Parfüm. Vielleicht waren es die Pollen aus dem Garten, jedenfalls musste Miss Seidenkleid plötzlich niesen. Das war Honeys Stichwort.
»Jetzt weiß ich’s wieder! Sie waren die Stadtführerin bei diesem Gespensterspaziergang. Pamela Windsor«, fügte Honey hinzu. Mannomann, was für eine tolle schauspielerische Leistung!
Jetzt kam auch Hamilton George herbeispaziert und füllte den Rest des Türrahmens aus.
»Meine Frau ist tot«, verkündete er, ehe Honey eine Chance hatte, ihm irgendwelche Vorhaltungen zu machen. »Sie hatte immer schon Atembeschwerden. Sie litt unter Asthma.« Er schaute zu Pamela. »Pammy hat mir geholfen, alles Nötige in die Wege zu leiten.«
Irgendetwas stimmte nicht an der Art, wie er Pammy sagte. Er hätte sie Pamela nennen sollen. Pammy war eine viel zu vertraute Anrede, wenn die beiden einander erst kurz kannten.
Honey machte sich blitzschnell ihren eigenen Reim darauf. Die beiden hatten mehr als ein Gespenst im Schrank. So neu konnte diese Bekanntschaft nicht sein.
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Draußen beim Auto sprang Mary Jane auf und ab. »He!«, rief sie und fuchtelte mit dem Kreuzschlüssel herum. »Erinnern Sie
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