Mordkommission
Laufe der Jahre an einem vorbeigetragen wird, begreift man immer deutlicher, was im Leben wirklich wichtig ist. Und
unwillkürlich drückt man seine Kinder oder seinen Ehepartner etwas länger und fester als sonst, wenn man an solchen Tagen
nach Hause kommt.
Noch in derselben Nacht erfolgte die Obduktion. Obduktionen sind nach Tötungsdelikten, aber auch bei allen zweifelhaften Todesfällen
unabdingbar und ein wesentlicher Bestandteil der Ermittlungen. Die Obduktion wird von der Staatsanwaltschaft angeordnet und
findet gemäß den gesetzlich geregelten Vorgaben der Strafprozessordnung statt. Dabei muss sich, wie es im Gesetz heißt, »die
Leichenöffnung, soweit dies der Zustand der Leiche erlaubt, stets auf die Öffnung der Kopf-, Brust- und Bauchhöhle erstrecken«.
Eine Obduktion kann bei zartbesaiteten Seelen zu einem dauerhaften Trauma führen. Schon das Ambiente eines Sektionssaales
wirkt auf Außenstehende erschreckend. Eine Reihe von Rollbahren aus Metall, die fest verankerten Obduktionstische aus Edelstahl
oder aus Stein und dazu zahlreiche Werkzeuge, bei deren Anblick allein einem flau im Magen werden kann: Sägen, Meißel, Messer,
Ablaufrinnen, Behälter zur Aufnahme von Organen, Gewebeproben, Maden oder diverse Flüssigkeiten und Duschvorrichtungen runden
das makabere Bild ab. Dazu Gummischürzen, |130| Überschuhe, Handschuhe, helle Scheinwerfer auf Schwenkarmen – kurz, kein Ort, an dem man liegend zu Gast sein möchte. Die
besondere Note aber erhält ein derartiger Raum, wenn auf allen Sektionstischen gleichzeitig Leichen in den unterschiedlichsten
Stadien der Verwesung liegen und entsprechende Gerüche verströmen (Oberbekleidung, die man während einer Obduktion getragen
hat, hängt man am besten einige Tage zum Auslüften ins Freie), wenn geschäftige Rechtsmediziner die Tische umlagern, wenn
Knochensägen sich durch Schädeldecken arbeiten oder Mageninhalte mittels haushaltsüblicher Schöpflöffel in Plastikgefäße abgefüllt
werden. Oder wenn ganze Körperpartien, wie etwa Einstichstellen oder Einschusslöcher, komplett herauspräpariert und asserviert
werden.
Eine Obduktion dient natürlich auch der sicheren Identifizierung des Leichnams. Es erfordert schon mehr als nur starke Nerven,
wenn die Körper, von denen Fingerabdrücke genommen werden, bereits in Verwesung übergegangen sind. Die Damen und Herren der
Rechtsmedizin besprechen währenddessen schon mal das kommende Abendessen oder es werden Tipps zur Kindererziehung, kosmetische
Neuheiten oder Urlaubserlebnisse ausgetauscht. Die Fortschritte bei der Untersuchung eines Leichnams werden unterdessen von
einem Beamten des Erkennungsdienstes in Farbe und im Großformat fotografisch dokumentiert, während der Beamte der Mordkommission
beziehungsweise bei ungeklärten Todesfällen der Beamte des Kommissariates für Todesermittlungen der Untersuchung als Zeuge
beiwohnt und dem Obduzenten Hinweise auf die Vorgeschichte des Verstorbenen oder auf die Umstände des Todes gibt. Werden Opfer
von Tötungsdelikten obduziert, so nimmt regelmäßig auch ein Vertreter der Staatsanwaltschaft teil.
Am bedrückendsten sind immer Obduktionen von Kindern. Da muss man entweder in der Lage sein, eigene Empfindungen und Gefühle
komplett im Interesse der Wissenschaft beziehungsweise der Ermittlungen auszuschalten, oder man quittiert den Dienst bei der
Mordkommission. Nur so viel zu den oft zwei bis vier Stunden dauernden |131| Eindrücken, die eine Obduktion nach einem Tötungsdelikt für alle Beteiligten mit sich bringt. Für mich ist es in diesem Zusammenhang
ein Rätsel, warum sich ausgerechnet so viele junge Frauen dafür interessieren, als Rechtsmedizinerin zu arbeiten.
Bei der Obduktion im vorliegenden Fall wurde festgestellt, dass der Täter mehr als einhundert Mal mit einem Messer auf sein
Opfer eingestochen hatte. Wenn ein Opfer mit weit größerer Gewalt, als für das Töten erforderlich gewesen wäre, umgebracht
wird – man spricht dabei von »Übertöten« -, bestand so gut wie immer eine Vorbeziehung zwischen Opfer und Täter. Das zeigt
die kriminalistische Erfahrung. Besonders häufig tritt das Phänomen des Übertötens auf, wenn eine persönliche Beziehung einseitig
aufgekündigt wird oder wenn ein Nebenbuhler oder eine Nebenbuhlerin dem Täter vorgezogen wird. Im vorliegenden Fall mussten
wir unser Augenmerk daher wohl in erster Linie auf das männliche Umfeld des Opfers
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