MORDMETHODEN
Geldübergaben und der Überwachung von Geldablageorten geübte Polizei nahm ihre Ermittlungen wieder auf. Der geplante nächtliche Geldtransfer endete aber wieder einmal mit verschwendeter Zeit. Das erinnerte alle Beteiligten stark an die vergangene Erpressungsserie.
Der Verdacht fiel natürlich auf den Schachfreund, und er wurde sofort und sehr dringend um ein Gespräch und eine Schriftprobe gebeten. Noch während er diese ablieferte, erinnerte sich einer der Ermittler daran, dass bei der Durchsuchung des Zimmers des Verdächtigen vor eineinhalb Jahren ein Stempel der betreffenden Maschinenfabrik gefunden worden war. In dieser Firma hatte der Schachfreund seine Lehre gemacht.
Die Ermittlungen ergaben dreierlei. Erstens stellte sich heraus, dass der Stempel auf dem Erpresserbrief nicht identischmit dem bei der Hausdurchsuchung aufgetauchten war. Zweitens ergab die Schriftprobe des Verdächtigen, dass dieser »mit Sicherheit« der Briefschreiber war. Und drittens nahm der Schachfreund gleich zur ersten Vernehmung seinen Bewährungshelfer mit und gestand die Tat. Der Bewährungshelfer ließ durchblicken, dass er hoffe, der Richter würde die Ehrlichkeit seines Schützlings als strafmildernd berücksichtigen.
Seltsamerweise explodierte nun die Zahl der Erpresserschreiben. Fünfundzwanzig Firmenkunden der Maschinenfabrik erhielten auf Papierbogen mit dem echten Briefkopf beleidigende, sexuell gefärbte Schreiben, die zum Teil in Erpressungen mündeten. In weiteren Briefen war zu lesen, dass die Empfänger schlechte, zahlungsunfähige Kunden seien. Diese Briefe begannen merkwürdigerweise alle mit den Worten: »Ihr Schweine!« Der Briefeschreiber schien die Kontrolle über sich zu verlieren.
Das Gleiche galt für den Schach spielenden Elektriker: Er wurde wenige Tage nach seiner Vernehmung als Exhibitionist ertappt. Es passte also alles zusammen – bis auf die Tatsache, dass der Stempel aus seiner Wohnung nicht der Stempel war, der auf den Briefen prangte. Es war auch schwer vorstellbar, dass der Verdächtige schon zu Lehrzeiten Dutzende Briefbogen geklaut und die Schimpf- und Schmuddeltiraden auf Vorrat gefertigt, gut versteckt und nun erst versendet hatte. Wohin führte das Ganze?
Es führte zunächst einmal in die Maschinenfabrik. Dort war vor kurzem der passende Stempel gestohlen worden. Niemand hatte den Sinn dieses Diebstahls begriffen, denn das verschwundene Stück hatte in der Warenannahme gestanden und war für jeden anderen Zweck außer als Wareneingangsstempel der Firma nutzlos.
Die Polizei, die sich von ihren eigenen, leicht widersprüchlichen Spuren nicht in die falsche Richtung lenken lassen wollte, sprach nun mit jedem Mitarbeiter der Maschinenfabrik.Dabei geriet sie an einen 17-jährigen Lehrling, der weder den Schach spielenden Elektriker noch den verheirateten Dekorateur kannte. Der Lehrling gab zu, die Briefe geschrieben zu haben, und zwar ganz allein. Durch die Beleidigungen, aber auch durch das Absenden der Briefe wurde er sexuell angeregt, was die ständig zunehmende Zahl von Schreiben erklärte.
Nun widerrief der Elektriker sein Geständnis. Als just nach seiner Entlassung neue Erpresserbriefe auftauchten, hatte ihm sein Bewährungshelfer empfohlen, alles zuzugeben, um jeden weiteren Ärger zu vermeiden. Noch nicht einmal der Sozialarbeiter hatte sich also der scheinbar logischen Kette von Zufällen, die den Fall von der ersten Minute an durchzogen, entziehen können. Auch er glaubte, ein Mensch, der einmal eine Erpressung durchgeführt hatte, müsse dies auch ein zweites Mal tun.
Im Februar 1966 wurde der Lehrling vom Bezirksjugendschöffengericht Karlsruhe auf Bewährung zu einem halben Jahr Jugendstrafe verurteilt. Damit fand die Erpressungsserie mit all ihren Verirrungen endlich ihr Ende.
Die Karlsruher Polizei ging ab sofort wesentlich vorsichtiger mit Schriftgutachten um. In beiden Erpressungsfällen hatten die Experten angebliche Übereinstimmungen der Schriftproben mit den Texten der Erpresserbriefe festgestellt, und in beiden Fällen stimmte dies nicht. Es war gut, dass die Kriminalisten und Richter weder allein den Indizien noch den scheinbar bombensicheren Gutachten getraut, sondern ihrem Gespür und der goldenen Doyle’schen Regel (s. S. 44) genauso viel Bedeutung beigemessen hatten. Man sieht: Erst wenn alle Ermittlungsergebnisse zusammenpassen, darf die Täterschaft einer Person als sicher gelten. Dann allerdings kann sich ein Puzzle ergeben, das in seiner fein gewobenen
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