Mordsonate
bekannte Muster bei Kindern, die abhauen.«
Anna war mit dem Rad zur Arbeit gefahren. Mehrmals musste sie sich mit dem Jackenärmel die Augen auswischen, da ihr die aufsteigenden Tränen die Sicht nahmen. Im Lager des Supermarkts versuchten ihre Kolleginnen sie vergeblich zu trösten, nachdem sie unter Weinkrämpfen erzählt hatte, was passiert war. Der Filialleiter drückte herum, er würde sie unter diesen Umständen natürlich gerne heimschicken, aber leider sei gerade heute die Erna ausgefallen, weil in der Stadt ein Darmgrippevirus grassiere.
Beim Palettenschleppen und beim Einräumen der Waren kam sich Anna vor wie eine Maschine, denn ihre Gedanken waren ausschließlich bei ihrem Kind. Sie musste sich zwingen, die Kundschaften zu grüßen, da sie, auf der Leiter stehend, um höher gelegene Regale zu versorgen, oder hockend, um in Bodennähe Waren ein-zuschlichten, doch an nichts sonst denken konnte als an Birgit. Und immer wieder begannen ihre Hände zu zittern und bald darauf der ganze Körper, und sie musste miteinem Weinkrampf ins Lager laufen, um mit ihrem Leid die Kunden nicht zu stören.
Bei ihren von beschwörenden Gebeten begleiteten Versuchen, sich daran zu klammern, dass Birgit bald wieder heimkommen werde, versetzten sie gerade die Fragen, die ihre Hoffnung stützen sollten, in Panik: Wer sollte denn etwas von dem Kind wollen – und was? Sie dachte an Kinderpornoringe – wäre ihre zarte, hübsche Tochter nicht genau das, was solche Männer suchten? Die noch so unklare Vorstellung, was ein Mann in diesem Moment womöglich mit ihrem Kind anstellte, brachte Anna Aberger beinahe um den Verstand.
Als später so großer Kundenandrang herrschte, dass die zweite Kassa aufgemacht werden musste, zog Anna die Waren noch schneller als üblich über den Scanner.
Als Birgit aufwachte, fühlte sie sich eigenartig benommen; ganz anders, als wenn sie daheim munter wurde. Im allerersten Moment war ihr sogar trotz der Augenbinde nicht klar, wo sie sich befand. Erst als sie wie gewohnt aufstehen wollte, spürte sie die schmerzenden Hand- und Fußfesseln, die sie daran hinderten. Nun ergriff sie schlagartig das Entsetzen über das, was ihr gestern widerfahren war. Und schon stauten sich erneut die Tränen unangenehm unter der jetzt auch noch als sehr heiß empfundenen engen Augenbinde, bis die Flüssigkeit nach und nach im Gewebe versickerte. Das Mädchen schluchzte auf, um sogleich erschrocken innezuhalten, als ihm die Schlangen einfielen. Birgit hielt den Atem an und lauschte. Doch sie konnte nichts hören. Nicht das leiseste Zischen oder das Geräusch ihrer trockenen, schuppigen Haut, wenn sich ihre Körper aneinanderrieben. Sie schliefen also noch, waren Gott sei Dank durch das Weinen nicht geweckt worden. Trotz ihrerAngst war sie gegen das leise Wimmern, in das sie immer wieder verfiel, machtlos.
Wie spät mochte es sein? Vielleicht war es noch mitten in der Nacht, dachte sie, als sie von draußen Vogelgezwitscher vernahm. So angestrengt Birgit auch lauschte, im Haus schien sich nichts zu regen. Ihr Peiniger war also noch nicht zurückgekehrt. Und wenn er überhaupt nicht mehr kam, wenn er sie hier einfach gefesselt liegen ließ … liegen ließ, bis sie … langsam verdurstete und verhungerte? Oder irgendwann von den Tieren angegriffen wurde, die doch auch Futter brauchten? Und gefesselt, wie sie war, würde sie sich überhaupt nicht wehren können. Bei diesem Gedanken schluchzte Birgit wieder lauter auf.
Sollte sie es doch wagen zu schreien? Oder könnte sie sich sonst irgendwie bemerkbar machen? Aber wie sollte das gelingen, ohne die Aufmerksamkeit der Tiere auf sich zu lenken? Der Mann hatte doch an alles gedacht. Birgit schauderte bei der Vorstellung, dass sie plötzlich spüren könnte, wie ein Schlangenkörper über sie hinweg kroch. Denn bei den Geräuschen, die sie gestern gehört hatte, hatte sie sehr große Schlangen vor Augen gehabt. Hatten Schlangen überhaupt Ohren? Nahmen sie nicht die Körperwärme ihrer Opfer wahr, mit ihrem Züngeln? Hatte sie das nicht in einer Tier-Sendung gesehen?
Alle möglichen Überlegungen wirbelten in ihrem Kopf herum, Bruchstücke von dem, was sie einmal gelernt oder irgendwo gehört hatte, während sie vor Aufregung zu schwitzen begann und ihr auffiel, wie stickig es in dem Raum war. Daheim stand nachts das Fenster ihres Zimmers immer einen Spalt breit offen, obwohl der Verkehrslärm von der Bürglsteinstraße nie verstummte.
Erich fuhr mit seinem Rad langsam
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