Mordspech (German Edition)
»Irgendwer will Ihren Patienten umlegen, und Sie berufen sich auf Ihre Schweigepflicht? Sind Sie bekloppt oder was? Es geht hier um Leben und Tod!«
Ein paar Leute im Wartebereich für Besucher sehen erschrocken zu uns herüber.
»Ich hab’s ihm versprochen«, verteidigt sie sich, »es war ihm sehr wichtig.«
»Ich denke, dass ihm sein Leben auch sehr wichtig ist, also reden Sie!« Ich drücke sie in einen der orangefarbenen Plastiksitze im Warteraum und setze mich dazu. »Bitte! Wenn er überleben soll, kann alles wichtig sein!«
»Er war in der DDR beim Ministerium für Staatssicherheit, wussten Sie das?«
Natürlich. Ich nicke heftig.
»Er wollte Karriere machen«, erklärt Susanne Baier. »Wer will das nicht, oder? Sie doch auch.«
»Mädchen, komm zum Punkt!«
»Sie wollten, dass ich alles erzähle. Alles kann wichtig sein, haben Sie gesagt.«
Stimmt. Tut mir leid. »Machen Sie weiter.«
»Dieses Ministerium war Schirm und Schutzschild der Partei. Es diente dem Aufbau des Sozialismus und dem Schutz …«
»… des ersten Arbeiter-und-Bauern-Staates auf deutschem Boden, schon klar!« Das ist Siggis Gequatsche. Gefühlte tausend Mal musste ich mir das schon anhören. Aber Geduld!
»Und als es trotzdem zu Ende ging mit der DDR , haben sie nicht aufgegeben. Sie wollten, sie mussten Karriere machen, auch im Westen. Damit es weitergeht mit dem Sozialismus, irgendwann.« Susanne Baier macht eine hilflose Miene. »Ich weiß doch auch nicht.«
Aber ich. »Die haben ihre Leute überall verteilt, damit sie, wenn es mal wieder anders kommt, an der richtigen Stelle sitzen«, erkläre ich ihr. »Verstehen Sie, das Ministerium für Staatssicherheit war ein Geheimdienst.«
»Das hat er mir auch gesagt.«
»Eben. Und so ein Geheimdienst hat seine Agenten überall positioniert.«
»Da sitzen sie noch heute«, nickt Susanne Baier.
»Jedenfalls viele«, pflichte ich ihr bei. »Die Frage ist, was machen sie heute? In was sind sie verstrickt?«
»Sie haben auf jeden Fall immer weiter Karriere gemacht und sind immer weiter aufgestiegen«, Susannes Baiers Finger beschreiben zwei Krabbelbeine, die eine imaginäre Leiter hinaufsteigen, »bis ganz nach oben.«
Wir sitzen in den Zentren der Macht, blablabla, wir sind überall. In der Wirtschaft, in der Politik, beim Militär und den Geheimdiensten. Ich kenne Siggis Sprüche bis zum Abwinken.
»Und dann hat er angefangen, Informationen zu sammeln«, sagt Susanne Baier, »hat Akten verschwinden lassen, die eigentlich vernichtet werden sollten.«
Na, das passt zu ihm.
»Er wollte sich absichern. Für die neue Zeit. Für die Zukunft. Weil man angreifbar ist, wenn man bei der Truppe, also bei der Stasi, war. Dann ist man erpressbar. Er wollte vorsorgen. Mit eigenem Material.«
»Um Leute damit unter Druck zu setzen?«
»Nein. Nur für den Fall. Falls mir mal einer ans Bein pinkeln will, hat er gesagt. Er wollte zurückschießen können, sich verteidigen. Die Unterlagen waren nur zu seinem eigenen Schutz.«
»Wissen Sie, wo die Unterlagen sind?«
»Nein.« Susanne Baier schüttelte den Kopf. »Aber er konnte wohl nicht genug davon kriegen. Hat immer weiter gesucht. Das war eine richtige Sammelwut, und ich habe gedacht, vielleicht kommt er deshalb zu mir. Weil er nicht aufhören konnte, sich Informationen zu beschaffen. Er wollte wissen, was die alten Genossen heute machen, wie sie drauf sind und in welche Aktivitäten involviert. Man muss an die Leute ran, hat er gesagt. Und dass es für ihn nicht schwierig gewesen sei, Kontakt zu bekommen. Er kannte ja viele seiner Genossen noch von früher, sei auf Kameradschaftstreffen gewesen, wo die alten Verbindungen gepflegt und neue geknüpft werden. Er nannte das Networking. Er hat ein Netzwerk geschaffen.«
»Wozu?«, will ich wissen. »Um Chemiewaffen in den Irak zu liefern?«
»Nein!« Sie starrt mich groß an. »Darum ging es ja. Das wollte er nicht. Das war ja sein Problem. Damit kam er nicht klar!«
»Womit kam er nicht klar?«
»Na, mit der Entwicklung. Die Gesellschaft sei pervertiert, hat er gesagt, alles richte sich nur noch nach dem Geld. Es gebe keine Moral mehr, keinen Anstand. Auch bei seinen Genossen nicht. Das hat ihn so fertiggemacht, dass er schließlich professionelle Hilfe brauchte.«
»Und deshalb ist er zu Ihnen gegangen?«
»Genau deshalb.« Sie nickt. »Er war sehr vorsichtig, hat erst immer nur sehr allgemein gesprochen. Und er hat darauf bestanden, dass ich mir keine Notizen mache. Ich
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