Mordspech (German Edition)
Streipert?«
Na, sicher doch. Der Fall Streipert erregte Mitte der achtziger Jahre Aufsehen. Der Besitzer einer Eisengießerei in Neukölln war beraubt und erschossen aufgefunden worden. Als Täter wurden zwei Angestellte der Eisengießerei ermittelt. Ein türkisches Brüderpaar, das im Besitz der Tatwaffe war. Zudem waren ihre Fingerabdrücke am Tatort sichergestellt worden, und an der Kleidung des älteren der Brüder fanden sich Schmauchspuren, die als Rückstände der Schüsse auf das Opfer gewertet wurden. Ein Geständnis gab es nicht, und auch das Raubgut wurde nie bei den Angeklagten gefunden. Doch aufgrund der erdrückenden Beweislage wurden sie wegen gemeinschaftlich begangenen vorsätzlichen Mordes zu zwölf und fünfzehn Jahren Haft verurteilt.
Die junge Anwältin der beiden Türken gab sich damit nicht zufrieden. Sie glaubte fest an die Unschuld ihrer Mandanten und erzwang gerichtlich die Exhumierung des inzwischen beerdigten Opfers. Bei einer erneuten Obduktion wurde festgestellt, dass Streipert vergiftet worden war. Die Schüsse auf ihn wurden erst abgegeben, als er schon tot war. Der ganze Fall musste neu aufgerollt werden. Mit dem Ergebnis, dass nicht die türkischen Brüder, sondern Streiperts Ehefrau der Tat bezichtigt wurde. Diesmal gab es ein Geständnis. Die Frau hatte ihren Mann vergiftet, um an dessen Lebensversicherung heranzukommen. Sie wusste, dass ihre türkischen Angestellten im Besitz einer Waffe waren, stahl diese aus deren Spind und gab dann die Schüsse auf die Leiche ab, um den wahren Tathergang zu verschleiern. Mit Erfolg.
Wäre die Anwältin der beiden Türken nicht so hartnäckig gewesen, würden die Brüder noch heute unschuldig im Gefängnis sitzen. Seitdem lässt unser Rechtsmediziner jede Leiche, die er zur forensischen Obduktion bekommt, toxikologisch untersuchen.
»Was haben Sie gefunden?«
»Nun, beim Fahrradkurier haben wir eindeutige Hinweise«, Graber schreitet die Bahren ab, »auf den regelmäßigen Konsum nicht unerheblicher Mengen Cannabis feststellen können.«
»Ein Kiffer, na und?«
»Nichts und.« Graber bleibt stehen. »Das war’s. Beim Fahrradkurier jedenfalls. Interessanter dagegen sind die toxischen Analyseergebnisse bei diesem toten Freund.« Er sieht fast liebevoll auf die abgedeckte Leiche des Fritz Kawelka. »Zunächst hielt ich die leichten Verätzungen in seinem Bronchialtrakt für eine Folge übermäßigen Alkohol- und Nikotingenusses. Aber die Schwellungen in der Lunge sprechen dagegen.«
Mann, macht der Kerl es wieder spannend. »Ist Kawelka vergiftet worden?«
»Zumindest muss er sich vor seinem Tod«, Graber reibt sich nachdenklich das Kinn, »an einem ziemlich gesundheitsgefährdenden Ort aufgehalten haben. In seiner Lunge fanden wir Spuren von Chlortrifluorid.« Er tippt auf die Aktenkladde in meiner Hand. »Eine Interhalogenverbindung. Sehr reaktionsfreudig, giftig und stark ätzend. Steht alles dadrin. Hätte man ihn nicht erdrosselt, wäre der arme Kawelka früher oder später an den Nachwirkungen dieses Gases gestorben.«
Mir fällt sofort Enzos Nazibunker im Oderbruch ein. »Kann man das Zeug für chemische Waffen verwenden?«
»Aber sicher«, antwortet Graber, »im Ersten Weltkrieg wurde Chlorgas an der französischen Front eingesetzt.«
»Und im Zweiten Weltkrieg?«
»Nein.« Graber schüttelt den Kopf. »Hitler war strikt dagegen. Er war als junger Feldwebel 1917 selbst in einen Chlorgasangriff geraten und entsprechend traumatisiert. Daher hat er den Einsatz von chemischen Waffen strikt verboten.«
»Was?« Hünerbein kann es nicht glauben. »Der Mann lässt Millionen von Juden in Gaskammern umbringen, scheut aber den Einsatz derselben Mittel an der Front?«
»Wollen Sie sich mit mir über die Logik eines größenwahnsinnigen Arschlochs unterhalten?« Graber winkt ab. »Ich fürchte, das führt zu nichts.«
»Im Übrigen haben seine Militärs durchaus mit chemischen Waffen experimentiert«, fügt Kurzweil hinzu. »Sarin etwa. Das ist das Zeug, mit dem die Gruppe Ōmo Shinrikyō, besser bekannt als Aum-Sekte, vor zwei Jahren diesen furchtbaren Anschlag auf die Tokioter U-Bahn verübte.«
Ja, ich erinnere mich, der Fall hatte weltweit für Entsetzen gesorgt.
»Aber wie gesagt«, bekräftigt Graber, »an den Fronten des Zweiten Weltkrieges kamen derartige Waffen nie zum Einsatz.«
Trotzdem muss Kawelka ja irgendwo mit diesem Chlorgas in Verbindung gekommen sein, überlege ich. Sonst hätte er es nicht in der Lunge.
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