Mordswald - Hamburgkrimi
normalen
Freitagvormittag.
"Was wollen Sie?" Jetzt, wo sie direkt vor ihr
stand, sah Lina den blauen Lidschatten und die dicke Wimperntusche, die aber
den müden Ausdruck in den Augen nicht verbergen konnte. Die Haare waren zu
einem lockeren Pferdeschwanz zurückgebunden. Das Kind in der Kinderkarre
nuckelte an einer Flasche und starrte Lina mit großen Augen an.
"Geht es um Marcel? Was hat er denn jetzt schon wieder
angestellt?"
Lina schüttelte den Kopf. "Soweit ich weiß,
nichts." Wer immer dieser Marcel war, die Frau schien ihre Gründe zu
haben, das Schlimmste zu vermuten. Sie zeigte ihren Dienstausweis vor.
"Ich ermittle in einem Mordfall. Das Opfer ist gestern Abend bei dem
Konzert in der Waldschänke gewesen, und ich möchte Sie gerne als Zeugin dazu
befragen."
Die Frau wirkte nicht gerade erleichtert. Es schien ihr
unangenehm zu sein, am helllichten Tag von der Polizei aufgesucht zu werden,
auch wenn die kleine, zierliche Person, die da vor ihr stand, so gar nicht nach
Polizei aussah.
"Können wir vielleicht reingehen? Ich würde ungern hier
draußen darüber reden."
"Ja, natürlich." Die Frau schloss die Tür auf,
schob die Karre samt Kind in den Flur und zerrte anschließend die Einkaufstüten
von den Griffen. Lina half ihr, nahm ihr die Tüten ab, damit sie das Kind
tragen konnte, das immer noch keinen Ton gesagt hatte.
Die Wohnung lag im vierten Stock. Schweigend standen sie im
Fahrstuhl nebeneinander, in dem es nach Reinigungsmitteln roch. In der Wohnung war
es warm und stickig. Frau Niemann bedeutete Lina, die Einkäufe in der Küche
abzustellen und verschwand mit dem Kind im Wohnzimmer. Kurz darauf hörte Lina
Fernsehgeräusche, irgendeine Kindersendung, und Antje Niemann kehrte in die
Küche zurück, setzte sich an den Küchentisch, kramte eine Schachtel Zigaretten
aus der Tasche und zündete sich eine an. Die künstlichen Fingernägel waren mit
winzigen Glitzersteinchen verziert.
"Dieser Bengel raubt mir noch den letzten Nerv. Ständig
hab ich das Jugendamt und die Bullen hier." Sie zuckte zusammen, als ihr
einfiel, wer da gerade vor ihr saß.
"'tschuldigung, Sie hab' ich natürlich nicht
gemeint."
Lina hob eine Hand. "Kein Problem. Ich bin da nicht so
pingelig." Sie setzte sich der Frau gegenüber an den Tisch. "Aber ich
bin nicht wegen Marcel hier." Sie zeigte der Frau das Foto von Philip
Birkner. "Haben Sie diesen Mann schon einmal gesehen?"
Antje Niemann brauchte nur einen kurzen Blick auf das Bild zu
werfen. "Klar, gestern Abend. Ist mir gleich aufgefallen, als er reinkam.
Ein echter Hingucker. Und wie der roch!" Sie seufzte. "Hat seine
Karte bezahlt und ist reingegangen. Später sehe ich dann, dass er an einem von
meinen Tischen sitzt. Aber leider nicht allein." Sie seufzte noch einmal.
"Sind Sie sicher, dass er allein gekommen ist?"
"Aber hundert pro."
"Er hatte aber zwei Karten reserviert. Haben Sie ihn
deswegen angesprochen?"
"Nee, er hat selber gesagt, dass er zwei bestellt hat,
aber nur eine nimmt. Dabei hat er mich ganz traurig angelächelt. Da wusste ich
gleich: Der hat Ärger mit seiner Süßen."
"Aber er ist ja nicht lange allein geblieben."
"Das können Sie laut sagen." Sie lachte und blies
den Rauch hoch in Richtung Zimmerdecke. "Die Kerle trösten sich ja immer
ganz fix, darin sind sie gut, einer wie der andere."
Sie schien aus Erfahrung zu sprechen.
"Ihre Kolleginnen haben mir erzählt, er hätte mit zwei
Frauen an einem Tisch gesessen. Wer war eigentlich zuerst da, dieser Mann
hier", Lina tippte auf das Bild, "oder die beiden Frauen?"
"Keine Ahnung, die beiden sind mir erst aufgefallen, als
ich sie mit dem da am Tisch gesehen habe. Eine von den beiden ist allerdings
gleich gegangen, sobald die Band aufgehört hatte zu spielen. Sie hatte nur eine
Apfelsaftschorle und hat ein bisschen kotterig ausgesehen. Danach haben sich
der Kerl und die andere Dame erst richtig amüsiert. Drei, vier Gläser Wein
hatten die bestimmt. Jeder. Und zum Schluss noch einen Grappa."
"Haben sie auch etwas gegessen?"
Antje Niemann dachte kurz nach. "Er hatte eine Pizza,
aber sie … ich glaube, nichts."
"Wissen Sie noch, wann er die Pizza gegessen hat?"
"Er hat vor Konzertbeginn bestellt, und ich hab ihm die
Pizza gebracht, kurz bevor die Musik losging, also schätzungsweise gegen
viertel vor acht."
Lina notierte sich die Uhrzeit.
"Haben Sie zufällig mitbekommen, worüber sich die beiden
unterhalten haben?"
Antje Niemann schüttelte den Kopf. "Keine Zeit, und es
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