Mordswald - Hamburgkrimi
Sie
drehte sich um und sah einen höchstens einen Meter siebzig großen Mann mit
Geheimratsecken vor sich, dessen Bierbauch vom Anzugjackett nur schlecht
kaschiert wurde. Er hatte dünne, mausgraue, leicht fettige Haare, war blass und
in seinen Bewegungen fahrig.
"Lukas, das ist Frau Svenson von der Kripo."
Herr Birkner begann zu zittern und strich sich mit der Hand
übers Gesicht. Er sah elend aus, und Lina nahm ihm ab, dass er aufrichtig um
seinen Bruder trauerte. "Haben Sie", seine Stimme klang krächzend,
und er musste sich räuspern, um weitersprechen zu können. "Haben Sie
denjenigen gefunden, der Philip … der meinen Bruder … ich meine …"
"Nein, Herr Birkner", sagte Lina ernst, "wir
wissen noch nicht, wer Ihrer Familie das angetan hat."
Dass Lukas und Philip Birkner Brüder waren, die sich darüber
hinaus sehr nahegestanden hatten, war nicht auf den ersten Blick zu erkennen.
Obwohl Lina den Älteren nur als Leiche und von Bildern kannte, war der
Unterschied nicht zu übersehen. Während man dem hochgewachsen, attraktiven
Philip den Erfolg im Leben angesehen hatte, schien sein Bruder mit der
Versicherungsagentur nicht gerade das große Los gezogen zu haben. Er wirkte
mindestens zehn Jahre älter als dreiunddreißig, und es sah nicht so aus, als
sei er erst innerhalb der letzten Woche so stark gealtert. Er musterte Lina
misstrauisch, während er um den Schreibtisch herumging und sich hinter seine
Frau stellte. Sonja Birkner sah ihren Mann nicht an, sondern starrte vor sich
auf die Tischplatte. Ihre Augen wirkten eine Spur größer als vorher, fast wie
bei einem Reh. Lina kannte diesen Blick, die Frau hatte Angst.
Sie zögerte. Sie wollte Birkner nur ungern in Beisein seiner
Frau auf das Liebesleben seines Bruders ansprechen. Unversehens hatte sie das
Gefühl, in ein Minenfeld geraten zu sein, in dem jeder Schritt eine Katastrophe
auslösen könnte.
"Herr Birkner, bei unseren Ermittlungen sind wir darauf
gestoßen, dass Ihr Bruder offensichtlich eine Geliebte hatte." Sie zögerte
erneut. "Wussten Sie davon?"
Der Mann starrte sie an. Seine Finger, die die Rückenlehne
des Schreibtischstuhls umklammerten, waren weiß. "Nein, davon weiß ich
nichts. Ich glaube es auch nicht. Es passt nicht zu Philip."
Sonja Birkner schien den Kopf einzuziehen.
"Es ist aber wahr. Ich habe mit der Frau
gesprochen."
"Vielleicht lügt die ja, um Philip schlechtzumachen.
Haben Sie sich das mal überlegt?"
Lina tat, als würde sie den Einwand bedenken. Plötzlich
wünschte sie sich Max an ihrer Seite, Max mit seiner klaren, tiefen Stimme, Max
mit seinen einen Meter achtzig und der Ruhe, die er mit sich herumzutragen und
an seine Umgebung abzustrahlen schien. Egal, was sie sagen würde, Lukas Birkner
würde nichts auf seinen Bruder kommen lassen, egal, welche Belege sie ihm
vorlegen würde, und mit jedem Schatten, den sie auf Philip fallen lassen würde,
würde er sich nur noch weiter verschließen. Er klammerte sich so blind an das
Bild, das er sich von seinem Bruder machte, dass er nichts anderes mehr gelten
ließ. Wenn jemand zu einem Menschen wie Lukas Birkner durchdringen konnte, dann
Max, das wusste sie plötzlich so sicher, wie sie wusste, dass Philip Birkner
nicht der Mann war, für den sein Bruder ihn hielt.
Tief in Gedanken versunken fuhr sie zum Präsidium zurück. Das
Ehepaar Birkner mussten sie unbedingt noch einmal befragen. Dass Sonja Birkner
wenn nicht gelogen, so doch zumindest sehr viel verschwiegen hatte, war
offensichtlich gewesen. Und sie hatte Angst vor ihrem Mann. Hatte Philip
Birkner auch seine Schwägerin angebaggert? Hatte sie sich womöglich darauf
eingelassen – und Lukas hatte es herausgefunden?
Doch Hanno hörte nur mit halbem Ohr zu, als sie ihm davon
erzählen wollte. Sebastian hatte sich gerade die Jungs aus der U-Bahn
vorgenommen. "Drei Bengel hat die Streife aufgespürt, keiner von denen ist
volljährig." Hanno schüttelte den Kopf. "Einer hat Sebastian gegen
das Schienbein getreten. Sein Gebrüll hab ich noch hier oben gehört."
Lina konnte sich die Szene lebhaft vorstellen, und sie wollte
nicht in der Haut der drei Jungs stecken. Sie hatte einmal erlebt, wie
Sebastian mit einem Verdächtigen umgesprungen war, der es gewagt hatte, ihn
anzupöbeln.
Hanno räusperte sich. "Geh mal runter und hilf ihm bei
den Jungs."
Lina starrte ihn ungläubig an. "Ich soll mit Sebastian
zusammen … Sag mal, hast du noch nicht mitbekommen, dass wir beide uns nicht
ausstehen können?"
"Das ist
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