Mordwoche (German Edition)
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Georg Haller hatte seine Sprache noch nicht wiedergefunden. So etwas war ihm noch nie passiert! Lisa-Marie Töpfer schien nicht zu bemerken, wie sehr sie ihren Kollegen aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Der Hauptkommissar leistete keine Gegenwehr als sie sich bei ihm unterhakte und nahm die junge Frau mit zu seiner Mutter. Es würde sowieso nur ein kurzer Besuch werden, denn ihre Mittagspause war in zwanzig Minuten vorbei.
Die Seniorenresidenz Gertrudenstift lag direkt in der Fußgängerzone von Bärlingen. Seine Mutter wohnte jetzt sozusagen downtown , eine echte Verbesserung im Vergleich zu ihrer Wohnung am Stadtrand. Das Altersheim war frisch renoviert und die Zimmer und Appartements gepflegt. Georg plagten immer wieder Gewissensbisse, dass seine Mutter seinetwegen ausgezogen war. Wenn er sie dann allerdings hier bei ihrer Binokel-Runde erlebte und sah, an welchen Angeboten sie noch teilnehmen konnte, dann war auch er überzeugt davon, dass es die richtige Entscheidung war. Dass es zu Hause am Abend so still war und dass er sich am Wochenende oft allein fühlte das musste seine Mutter nicht wissen.
Im Foyer eines Seniorenstifts sah es genau so aus wie in jedem anderen Altersheim auch. Auch wenn man hier unwillkürlich nach distinguierten weißhaarigen Herren Ausschau hielt, die bei einem Pfeifchen die Lage der Weltpolitik oder in gediegener Clubzimmer-Atmosphäre die Entwicklung ihrer Aktien besprachen, die Bewohner des Gertrudenstifts unterschieden sich nicht von denen anderer Seniorenheime. Hier traf man auch nicht auf die vornehmen Damen von Welt, die eine Gelegenheit suchten, ihren Schmuck und Pelz auszuführen. Wer hier auf den Polstergarnituren mit Hygieneschutz saß, der wartete. Einige warteten auf Besuch, der vielleicht längst da gewesen war, was sie aber schon wieder vergessen hatten, andere darauf, dass die nächste Mahlzeit ein wenig Abwechslung in ihren gleichförmigen Tagesablauf brachte. Die meisten saßen einfach nur da und ließen die Zeit an sich vorbeistreichen.
Wenn er seine Mutter besuchen kam, hätte Georg sich am liebsten immer durch eine Hintertür ins Haus geschlichen. Es war ihm unangenehm, dass ihn die Alten ansprachen und ihm die Hand geben wollten. Er schämte sich insgeheim für seine Abneigung. Auch heute versuchte er, die Eingangshalle so schnell wie möglich zu durchqueren. Die Wartenden kannten ihn allerdings schon, denn er kam regelmäßig zu Besuch und dass er heute sogar noch ein unbekanntes Gesicht mitgebracht hatte, das löste bei den Senioren eine wahre Begeisterung aus. „Ja Schorsch, dass man dich auch mal wieder sieht!“ Eine Bewohnerin, die noch etwas mobiler war, kam mit ihrem Rollator auf Georg Haller zu und reichte ihm ihre faltige Hand zum Gruß. „Grüß Gott, Frau Müller.“ Nur jetzt kein Gespräch beginnen. „Wen hast du uns denn heute mitgebracht?“ Ein älterer Mann, der sich nicht mehr vom Sofa erheben konnte und offensichtlich auch schlecht sah, reckte den Hals nach vorne. Nicht schon wieder der Klaubinger, dachte sich Georg. Der fand immer kein Ende, wenn er erst einmal ins Erzählen kam.
„Grüß Gott, ich bin eine Kollegin vom Schorsch, die Lisa-Marie.“ Die Polizeiobermeisterin war auf den alten Mann zugegangen und reichte ihm die Hand. „Ja so ein nettes Mädchen, das bring mal ruhig öfter mit.“ Der zahnlose Opa lächelte beglückt. „Jetzt müssen wir aber wirklich, sonst ist die Mittagspause gleich rum.“ Georg führte seine Kollegin am Arm weiter. „Wenn man denen den kleinen Finger reicht, dann nehmen sie gleich die ganze Hand. Da kommst du dann unter einer Stunde nicht mehr weg.“ „Herr Haller, das wundert mich jetzt aber. Du bist doch sonst nicht so ein Eisklotz. Die alten Leutchen hier sind bestimmt ganz einsam. Da wird doch wohl ein nettes Wort erlaubt sein.“
Georg Haller fand, dass seine Kollegin Recht hatte. Er freute sich, dass die oberflächliche Party-Maus, für die er sie bislang gehalten hatte, vielleicht doch mehr Tiefgang hatte, als er bislang annahm. Die Frau hatte das Herz auf dem rechten Fleck!
Das kleine Appartement seiner Mutter lag im zweiten Stock und sie hatte von ihrem Balkon aus eine wunderbare Sicht auf die prächtige romanische Stadtkirche am Marktplatz. Frau Haller freute sich über den unerwarteten Besuch. Sie hatte sich ihre Wohnung gemütlich und für eine Frau ihres Alters relativ modern eingerichtet. Als sie Georg über ihre Umzugspläne informierte, hatte sie ihm gleich
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