Morgen früh, wenn Gott will
»Vermutlich nicht.«
Silver griff wieder zum Telefon. Dort, wo eben noch seine Finger gelegen hatten, fühlte meine Hand sich plötzlich nackt an. »Ich muss weitermachen, Jess.«
»Okay.«
Deb stand vor dem Fenster des Restaurants. Sie trug eine Plastiktüte aus der Apotheke und winkte mir zu. Wir fuhren zusammen nach Hause.
Der Abend war mild, die Luft endlich ein bisschen angenehmer als die Abende davor. Ich war mit Shirl und Leigh im Garten und öffnete einen von Mickeys sündteuren Weinen. Shirl hatte sich eine riesige Tüte gedreht und die Beine lässig auf dem Tisch abgelegt. Leigh lackierte nun – nach einer sorgfältigen Erneuerung ihrer künstlichen Bräune – ihre Nägel in zartem Muschelrosa. Gelegentlich spreizte sie die Finger, um ihr Werk zu bewundern. Ich hingegen zupfte an meinem frisch gewaschenen Haar herum, streifte es nach hinten, dann wieder nach vorne. Ich wollte das Gespräch gerade auf Agnes bringen, die vollkommene Ex-Frau, um mir ein wenig weiblichen Rat und Frauensolidarität zu holen, als die Nachricht kam.
Deb erschien an den Stufen zum Garten. Ich sah sofort, dass die Ader neben ihrem Auge pochte. Dieses Signal hatte ich zu deuten gelernt: Es verhieß Ärger. Kellys Kugelbauch schob sich gleich hinter ihr ins Bild. Höflich sahen sie über Shirls Joint hinweg. Diese machte die Tüte in meinen gefüllten Petunien aus, nicht ohne noch einmal daran gezogen zu haben. Die armen Blumen.
»Ein unerwartetes Ereignis«, nannte Deb es. Man hatte ein weiteres Paket abgefangen, das eigentlich an mich adressiert war. Mit einem neuen Video und einer maschinengeschriebenen Notiz an mich, die fehlerhafterweise mit »Lösgeldforderung« überschrieben war. »Sie«, wer auch immer das sein mochten, wollten jetzt Geld. Ich konnte meinen Sohn zurückhaben, wenn ich 50 000 Pfund ausspucken würde.
»Und das soll alles sein?«, fragte ich ungläubig. Aus den tiefsten Tiefen meines Körpers brach sich ein lautes Lachen Bahn. Die anderen sahen mich vorsichtig an. Mir war plötzlich nach
Tanzen zumute. Mit fröhlichem Blick musterte ich die letzten Sonnenstrahlen, die sich in meinem Weinglas brachen und die Flüssigkeit dick und ölig aussehen ließen wie eine geheimnisvolle Tinktur aus dem Feenreich.
»Das ist doch eine gute Nachricht, oder nicht?« Ich sah mich um und lächelte den anderen ermutigend zu. »Super. Fünfzig Riesen. Das ist ja gar nichts! Nicht heutzutage. Nicht, wenn man sich überlegt, worum es eigentlich geht. Ich würde jeden Preis für ihn bezahlen, absolut jeden.«
Aus irgendeinem Grund sah Deb besorgt aus. Ihre Ader pochte immer noch.
»Ich nehme mal an …«, fing Leigh vorsichtig an.
»Das bedeutet doch, dass ich ihn endlich zurückbekomme. Wenn das alles ist, was sie wollen, dann habe ich ihn bald wieder hier.« Beschwingt prostete ich den anderen zu.
»Aber wieso …«, fragte Shirl langsam – und ihre Frage richtete sich nicht an mich, sondern an die beiden Polizeibeamten –, wobei sie sich auf die Lippen biss. »Wieso haben die über eine Woche gebraucht, um Geld zu verlangen?«
»Ach, Shirl«, schnappte ich und nahm einen großen Schluck Wein. Niemand sollte mir jetzt meinen Optimismus rauben, nicht jetzt, wo ich so entsetzlich lange gewartet hatte. »Vielleicht haben sie jetzt gemerkt, wie anstrengend so ein Baby sein kann«, witzelte ich hoffnungsfroh, doch niemand wollte in meine Fröhlichkeit einstimmen. Ungehalten stieß ich meinen Stuhl zurück. »Ich kann einfach nicht glauben, wie ihr euch aufführt.« Es reichte mir allmählich. »Das ist doch eine gute Nachricht. Da bin ich ganz sicher. Es muss einfach so sein.« Ich sah Kelly an, der so ungerührt wie immer wirkte. »Es ist doch so, oder? Was sagt Silver dazu?«
Unverbindlich zuckte Kelly mit den Schultern. »Er ist beim Chef, Mrs Finnegan. Ich bin sicher, er wird sich bald melden.«
Chef. Merkwürdig. Ich dachte immer, Silver sei der Chef.
»Nun«, ich war mehr als ein klein bisschen beschwipst, »dann gehe ich eben hinein und rufe ihn selbst an.«
Genau das tat ich dann auch. »Könnten Sie bitte vorbeikommen? Ich muss wirklich mit Ihnen sprechen.« Der Alkohol machte mich mutig.
Es versetzte mir einen ziemlichen Stich, dass er ablehnte. »Ich muss hierbleiben, Jessica. Wir müssen die Einzelheiten der Übergabe besprechen. Bleiben Sie im Moment am besten, wo Sie sind.«
»Aber …«, jetzt fing ich zu stottern an und wurde recht kleinlaut. »Was soll ich denn tun?«
»Bleiben Sie, wo Sie
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