Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung
ich doch, natürlich, ja. Aber trotzdem kann ich’s nicht. Es... es wäre nicht fair dir gegenüber.»
Das hätte sie sich vorher überlegen können, dachte er bei sich. Hatte sie aber nicht. Und er hatte sie jetzt auf dem Hals. Aber so übel war sie eigentlich gar nicht. Er durfte nur keine falsche oder hastige Bewegung machen, dann bekam sie schon Zustände. Nur weil er das Wort benutzt hatte, war sie vor Entsetzen fast die Gardinen hochgegangen. Für seine Verhältnisse ungeheuer sanft sagte er daher: «Jetzt wasche ich erst mal ab. Du legst die Füße hoch und entspannst dich ein bißchen.»
Also, die Füße hochlegen wollte Rose nun keinesfalls, aber sie versuchte, sich wenigstens zu entspannen. Immerhin war sie schließlich bei ihrem geliebten Bobs. Sie wollte ja kein Spielverderber sein. Also hockte sie sich auf die Kante des Sofas, faltete die Hände im Schoß ihres züchtigen Tweedrocks und sah dabei so entspannt aus wie ein Löwenbändiger, der zum erstenmal seine Solonummer vorführen muß.
Sich am Geschirrtuch die Hand abtrocknend, kam Bobs wieder herein und warf ihr einen Blick zu. «Ich mag das
Deckenlicht nicht, du etwa?» sagte er, machte es aus und knipste eine Tischlampe an. «Musik?» fragte er. Er setzte den Plattenspieler in Gang, ein Walzer von Strauß. Dann warf er noch ein paar Kohlen aufs Feuer und setzte sich aufs Sofa. Die gute alte Rose sah bei dieser Beleuchtung gar nicht so übel aus. Wenn er sich’s recht überlegte, mochte er sie eigentlich ganz gern, wenn sie bloß nicht so hinter ihm her wäre. Im Augenblick war davon allerdings nicht das geringste zu spüren. Sonderbare Wesen, manche Frauen. Erst machen sie Jagd auf einen, und wenn sie es dann geschafft haben, sterben sie vor Angst. Also, entweder oder. Er beugte sich vor und ergriff Roses Hand.
10
Gaylord stapfte von der Schule nach Hause. Wenn die Schneeflocken Kohlweißlinge gewesen wären und er wäre ein Kohlkopf, so hätten sie ihn nicht beflissener umtanzen können. Sie kitzelten seine Nase, schossen ihm in die Augen, flatterten seinen Nacken hinunter und nisteten in seinen Ohren. Der Schnee wurde immer tiefer. Er war gar nicht sicher, ob er es bis nach Hause schaffen würde.
Die weiße Welt war so öde wie die Antarktis. Alle vertrauten Markierungen waren verschwunden. Es gab nur das Heulen des Schneesturms, die langsam herankriechende Dunkelheit und die sich über ihn neigenden Bäume. Um sich bei Laune zu halten, versuchte er zu pfeifen. Da er aber nur einen trübseligen Ton zustande brachte, half das nicht viel.
Vor ihm bewegte sich etwas. Wölfe? Er spähte angestrengt durch den Schneedunst. Zwei Gestalten blockierten seinen Weg. Es waren keine Wölfe. Viel schlimmer. Es waren Willie und sein Bruder Bert.
Schweigend und tückisch starrten sie ihn an. Bert zerrte etwas aus der Hosentasche. Klick, das Messer sprang auf. Mit der mörderischen Spitze begann er, sich nachdenklich die Fingernägel zu säubern.
Gaylord beobachtete ihn mit grauenerfüllter Faszination. Endlich: «Ist das der kleine Schweinehund?» fragte Bert.
«Das is er», sagte Willie.
Bert säuberte weiter seine Nägel. «Warum hast du Willies Dings geklaut?» fragte er.
«Hab ich ja gar nicht», sagte Gaylord empört.
Bert blickte hoch und sah Gaylord an. Und Gaylord begann zu zittern. In Berts Augen war nichts Menschliches. Weder Mitleid noch Haß. Sie waren vollkommen ausdruckslos. «Du hast eine Woche Zeit», erklärte er. «Ich gebe dir eine Woche, sonst...»
«Sonst was?» fragte Gaylord, keineswegs herausfordernd, sondern um Klarheit zu gewinnen.
Bert hörte auf, seine Nägel zu säubern. Langsam bewegte er die Spitze des Messers auf Gaylords Gesicht zu. Gaylord stand da wie hypnotisiert. Das Messer berührte fast sein Gesicht. Er konnte sehen, wie eine Schneeflocke auf der blitzenden Klinge langsam zu Wasser zerschmolz. «Ich mach dich fertig», sagte Bert.
«Das sag ich meinem Vater.»
«Den mach ich auch fertig», sagte Bert.
Gaylord sagte: «Ich hab Willies Dings nicht. Ich kann es gar nicht zurückgeben.»
«Komm», sagte Bert. Er und Willie verschwanden in der Dunkelheit.
Nachdenklich stapfte Gaylord weiter. Wieder tauchten aus dem weißen Dunst zwei Gestalten auf. «Da ist er ja», sagte Mummi, und es klang sehr erleichtert.
«Du siehst aus wie ein Polarforscher», sagte Paps. Sie nahmen ihn in die Mitte, jeder nahm eine Hand. Nicht immer war Gaylord restlos glücklich, wenn seine Eltern auf der
Weitere Kostenlose Bücher