Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition)
aus.
»Entschuldigung«, murmelt sie. Ich versuche nicht allzu sehr in der Genugtuung zu baden, aber ich kann mich nicht davon freisprechen, dass es mir gefällt. Nevis wendet sich mir zu und führt mit einer Hand an meinem Kinn mein Gesicht näher an seins.
»Ich liebe Maya Jasmine Morgentau«, verkündet er vor dem ganzen Orden. Dann senkt er seine Stimme und spricht nur zu mir: »Weißt du, wie Morgentau entsteht, Maya?«
Ich schüttele meinen Kopf.
»Luft enthält Feuchtigkeit. Je wärmer es ist, desto mehr Wasser kann die Luft speichern.« Seine Stimme ist so sanft, sein Atem so warm und nah, dass ich mich wirklich konzentrieren muss, um ihm zu folgen. »Wenn es also in den Abendstunden und über Nacht kälter wird, kann die Luft nicht mehr so viel Feuchtigkeit halten. Am Morgen, kurz bevor die Sonne aufgeht, ist es am kältesten und die Luft gibt ihr Wasser an den Boden ab. Kleine wässrige Perlen setzen sich auf Wiesen und Feldern ab. Dieses aus der Kälte gewonnene Wasser ist das Lebenselixier für viele Pflanzen und Tiere.« Nevis streicht mir über den Kopf und seine Lippen nähern sich meinen. »Doch der Morgentau ist nicht nur atemberaubend schön anzusehen, man könnte auch sagen, dass die Kälte in diesem Fall Leben schenkt.«
»So wie deine mir«, hauche ich, schließe meine Augen und vergesse die Welt um uns herum. Es gibt nur noch den warmen, sanften Druck unseres Kusses. Es ist wahr: Ich habe mein stilles Leben im Orden geliebt, aber zu leben habe ich erst mit Nevis angefangen.
4. DIE EWIGKEIT IST LANG
Nevis schläft. Oder vielleicht auch nicht, denn ich höre ihn husten, während ich mit meiner Mutter im Wohnzimmer am Tisch sitze und warmen Tee trinke.
»Mama?«
»Hm«, brummt sie gedankenverloren und starrt mich mit nachdenklichen Augen an. Sie hebt die Tasse an ihre Lippen.
»Wer ist mein Vater?« Seit ich Pesco und Thais getroffen habe, werde ich den Gedanken nicht mehr los. »Habe ich vielleicht sogar Geschwister?«
Mama schluckt langsam und schüttelt dann den Kopf. Behutsam stellt sie die Tasse ab und ich tue es ihr gleich.
»Nein, keine Geschwister«, antwortet sie nach kurzem Schweigen. Ihr Blick verlässt mich für einen Moment, bevor sie mich mit einem fremden Gesichtsausdruck wieder ansieht. »Ich denke, du bist jetzt alt genug, um die Geschichte zu hören.« Sie lacht leise in sich hinein. »Immerhin bist du jetzt eine Ehefrau.« Mama überlegt und streicht immer wieder mit ihren Händen um die Tasse. »Dein Vater Leonden und ich … wir haben uns geliebt, Maya.«
In mir kribbelt es, als ich zum ersten Mal den Namen meines Vaters höre. Der Wunsch, ihn kennenzulernen, drängt sich mir förmlich auf. Plötzlich ist dieser Geist meiner Fantasie real geworden. Er hat einen Namen. Leonden.
»Leider kam jedoch alles anders als geplant. Ich wollte den Orden verlassen, zögerte jedoch. Maya, ich war so jung und unsicher … mich für Leonden zu entscheiden ist mir nicht leicht gefallen, denn es hieß, die Sicherheit dieses Gemäuers zu verlassen. Doch die Göttin Gaia hatte einen anderen Plan für mich. Ich wurde schwanger und es war Elaria, die die Zeichen an mir zuerst erkannte. Als sich Elarias Verdacht bestätigte, konnte ich nicht mehr austreten. Zumindest nicht bis zur Geburt, denn sollte das Kind ein Mädchen werden, gehörte es dem Orden. Bei einem Jungen hätte ich mit Leonden nach Hemera ziehen können.«
»Dann ist es meine Schuld«, flüstere ich betroffen und mustere meine Hände.
»Nein.« Mama legt sanft ihre Hände auf meine Schultern. »Dein Vater und ich waren unvorsichtig. Ich wurde schwanger, bevor ich den Austritt aus dem Orden über das Herz gebracht habe. Leonden und mir war von Anfang an klar, dass, solltest du ein Mädchen werden, ich bei dir im Orden bleibe. So kam es dann auch.«
»Wegen mir hast du die Liebe deines Lebens aufgegeben.«
Mutter streichelt mir über den Kopf und ihre Augen funkeln mich mit einem schimmernden Glanz an. »Nein, die habe ich an dem Tag erst zur Welt gebracht.«
Ich falle in ihre Arme und lasse mich fest von ihr drücken.
»Ich habe es niemals bereut dich bekommen zu haben, Maya. Niemals.«
Wir lösen uns voneinander und ich sehe meine Mutter abwartend an.
»Nachdem du weg warst, bin ich in die Stadt gegangen. Ich hatte schon lange nichts mehr von Leonden gehört.« Sie wird still und sieht mich entschuldigend an. »Er starb vor zwei Jahren bei einem Unfall. Dein Vater hat auf den Dächern der Stadt gearbeitet und
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