Morland 01 - Die Rückkehr der Eskatay
etwas mit der optischen Telegrafie zu tun hatte. Delatour stellte fest, dass bei einer getrennten Redoxreaktion eine neue Form von Energie entstand, die er ganz unbescheiden Delatour-Kraft nannte. Diese Kraft erzeugte er in Redoxreaktionsblöcken. Eines Tages, so seine Behauptung, konnte mithilfe dieser Energiequelle das gesprochene Wort mittels eines Membrantelegrafen übertragen werden.
Es klingelte leise und Herr Diffring legte die Zeitschrift beiseite, um eine Taschenuhr aus seiner Westentasche zu ziehen.
»Es scheint, als sei die Zeit für diesen kleinen Test um, York. Wie weit bist du?«
»Fertig.«
»Sehr gut«, sagte der Hauslehrer und stand auf, um die beschriebenen Zettel an sich zu nehmen. Dann setzte er sich an den Tisch und machte sich sofort an die Korrekturen. Da York der einzige Schüler war, den Herr Diffring betreute, konnte er auf das Ergebnis warten.
»Die Wahl der Erfindungen ist ungewöhnlich«, sagte Herr Diffring und setzte seine Brille ab, als er die Blätter vor sich auf den Tisch legte.
»Warum?«, fragte York unsicher. Er sah die Note für diesen Test schon in den Keller fahren.
»Sie haben alle mehr oder weniger etwas mit dem Austausch von Information zu tun. Das sind Fähigkeiten, die du in deiner späteren Profession dringend benötigst: Kommunikation und Diplomatie.«
Er schrieb mit seinem roten Stift einen kurzen Kommentar unter den Test und versah ihn mit einer Note. Obwohl die Zahl auf dem Kopf stand, konnte York sie erkennen. Er musste lächeln. Es war eine Zwei plus.
»Sie haben mir noch nie eine Eins gegeben. Warum eigentlich?«
»Weil du dazu besser sein müsstest als ich«, sagte Herr Diffring und steckte seinen Rotstift zurück in das Ledermäppchen. »Mit Verlaub: Bis es so weit ist, wird es noch einige Zeit dauern. Wahrscheinlich wird dir da schon der erste Bart sprießen.«
»Machen wir eine Pause?«, fragte York.
»Ich habe sogar noch eine bessere Nachricht für dich: Für heute ist Schluss.«
»Oh«, machte York nur und es war ihm selber nicht so ganz klar, ob er das frühzeitige Ende des Unterrichtes bedauern oder begrüßen sollte. Er mochte Diffring mit seiner trockenen Art. Außerdem war er einer der wenigen Menschen, von seinem Vater einmal abgesehen, mit dem er sich über mehr als nur das Wetter unterhalten konnte. »Stimmt es, was man sich erzählt? Dass es in der Stadt zu vereinzelten Unruhen kommt?«
Diffring war aufgestanden und zog sich jetzt sein Jackettüber. »Ich würde es nicht Unruhen nennen«, sagte er und schnippte sich ein Stäubchen vom Ärmel. »Die Versorgungslage ist ein wenig knapp, die Menschen stehen vor den Geschäften Schlange, wenn sie mehr als nur Brot oder Milch haben möchten. Aber bisher ist noch niemand verhungert.«
Doch York ließ nicht locker. »Ich habe gehört, dass sich die Arbeiter in Vereinen organisieren, um ihren Forderungen nach mehr Geld Nachdruck zu verleihen.«
Diffring schaute seinen Schüler überrascht an. »Du bist erstaunlich gut informiert.«
»Ich rede mit dem Personal. Und ich lese die Zeitung, obwohl ich nicht glaube, dass die Presse uneingeschränkt die Wahrheit berichten darf.«
Diffring gab darauf keine Antwort.
»Ich bin nicht blind, und mein Vater ist es auch nicht«, fuhr York fort. »In diesem Haus darf frei gesprochen werden. Und glauben Sie mir, das tut mein Vater auch in Anwesenheit des Präsidenten.«
Diffring lächelte schief, gab aber keine Antwort. »Wir sehen uns morgen nach dem Frühstück. Ich würde dir empfehlen, bis dahin Schaljuchins Theorie vom nachfrageorientierten Angebot zu lesen.«
»Wirtschaft?«, rief York erschrocken. »Schreibe ich morgen schon wieder einen Test?«
Diffring zwinkerte ihm zu und verließ die Bibliothek.
Als die Tür ins Schloss gefallen war, rümpfte York die Nase. Vielleicht musste er doch die Meinung über seinen Lehrer ändern. Er stand auf und vergrub die Hände in den Hosen taschen.
Die Bibliothek war der Ort des Hauses, an dem er sich neben der Küche am wohlsten fühlte. Es war ein holzgetäfelter Raum von quadratischem Zuschnitt, der von einem großen Kamin beherrscht wurde. Auf dem Sims stand eine schwere goldene Uhr, die mit einer feinen Melodie die Stunden schlug. Vor der Feuerstelle standen einander gegenüber zwei Dreisitzer aus dunkelrotem Leder, die durch einen kniehohen Tisch getrennt waren, auf den jeden Morgen von den Bediensteten ein frisches Blumengebinde gestellt wurde. Über den Parkettboden war ein großer hand geknüpfter
Weitere Kostenlose Bücher