Morphin
durchblutete Haut wächst darüber. Zwischen den Beinen sprießt aus den Falten um die künstliche Harnröhre ein neuer Penis, die Röhre verwächst mit ihm, die Blutgefäße und Schwellkörper und die Haut und alles auf dem Papier, auf dem Vordruck und dem lichtempfindlichen Papier, wo im Rotlicht Baldur von Strachwitz dunkel wie ein Neger mit schwarzen Augäpfeln in weißer Uniform sichtbar wird, dann hellgrau in dunkelgrauer Uniform, dann schneiden sie ihn mit einer kleinen Guillotine zurecht, danach Baldur von Strachwitz im braunen Anzug, ich.
Und du streifst umher, denn was jetzt, was jetzt?
Hela. Jureczek. Der alte Peszkowski. Iga. Jacek. Mutter. Alle.
Salomé, guter Gott, Salomé, was ist mit Salomé? Soll ich zu ihr fahren, jetzt gleich, was ist mit ihr?
Nicht fahren.
Und mein Vater, was ist mit ihm, das ist doch ganz nah, eine Viertelstunde zu Fuß, nicht mehr, soll ich nachsehen?
Geh nicht, Dummkopf, geh nicht. Du weißt doch: Er hat dich nach unten begleitet, damit man ihn in dem Moment sieht, wo du hinausgehst, damit man weiß, dass er allein geblieben ist.
Ich gehe nicht. Hat der Wachmann meinen Namen notiert? Ich erinnere mich nicht, dass er etwas aufgeschrieben hätte, und ob er sich was gemerkt hat, er hat nur in meine Papiere geguckt. Wenn er sich nichts gemerkt hat, bin ich ein Niemand, einer von zehntausend Deutschen in Warschau, und wenn doch, dann werden sie mich suchen. Danach.
Wonach? Danach. Ich gehe nicht hin. Zu Salomé gehe ich auch nicht.
Du gehst nicht, dein Herz ist auf ein anderes Gleis gesetzt. Du durchstreifst die Wohnung, stöberst Gerüche und Spuren von Hela und Jureczek auf, zu denen du auch nicht gehen wirst. Ein Uhr nachts, es ist schon ein Uhr nachts.
«Fertig», sagt der Jude.
Hela schläft im Sessel.
Dzidzia, nicht Hela.
Hela schläft weit entfernt von ihr in der Podwalestraße, neben ihr Jureczek und über ihnen Peszkowskis schrecklicher Schatten.
Im Schrank Helas Kleider. Du gehst sie mit der Hand durch, Seiden und Atlas flüstern ihre buddhistischen Gebete wie Papierfetzen im tibetischen Wind, flüstern ihre Gebete zur ewigen Weiblichkeit, die sie einst bedeckten.
Erinnerst du dich an die Papierfetzen in Tibet?
Ich war nie in Tibet.
Hela, Hela, Hela. Hela!
«Schlaf, Konstanty», flüstert Dzidzia. «Morgen erledigt der Ingenieur die Formalitäten, und wir fahren. Du musst dich jetzt ausruhen.»
Das Fläschchen. Kein Fläschchen. Voller Glück.
«Lass mich in Ruhe», sage ich und schließe die Schlafzimmertür, mir ist egal, was aus ihr wird. Ich werde jemand sein, werde einem Zweck dienen, und nicht mehr so sein, wie ich bisher war.
Dummer, dummer Kostek.
Ich ziehe mich aus und schlafe.
Du träumst von deinem Elternhaus, dem Mietshaus in Kattowitz. Du bist dort auf einem Empfang, einem Cocktail, den es ja in deinem Elternhaus nie gegeben haben kann, denn damals, als ihr dort wohntet, wurden keine Cocktails gegeben, auf dem ersten Cocktail deines Lebens warst du bei Jaceks Eltern, und das war 1932 , und du hattest den ersten Smoking deines Lebens an und spürtest dieses Gefühl, dein Leben würde endlich von der Stelle kommen. Du warst schön, und schöne Frauen mit runden Hüten lachten dich an, du trankst Wodka und hast Kaviar gegessen. Später hast du dir einen Frack gekauft. Aber jetzt träumst du, und der Cocktail wird in dem Wohnzimmer gegeben, in dem du die Kindheit verbracht hast, so wie du die Kindheit im Schweigen deiner Mutter verbracht hast. Und im Wohnzimmer stehen viele Menschen, doch einen Bekannten kannst du nicht entdecken, es ist sehr dunkel, nur wenig Licht fällt durch die Fenster, ein düsterer, grauer Sonnenuntergang.
Und alles ist mit grauer Asche bestreut, die Menschen waten durch diese Asche, greifen irgendwelche Häppchen von den aschebedeckten Tischen, Asche treibt in den Gläsern, setzt sich ins Haar, und es ist nicht so, dass sie das nicht sehen würden, sie sehen die Asche, witzeln darüber, klopfen sich die Ärmel ab, pusten sie von den belegten Broten.
Ich suche jemand – später wird mir klar, dass ich eine Frau suche. War es Hela oder Salomé, Iga oder Dzidzia? In der Luft, zwischen den aschebedeckten Menschen, schweben glitzernde, glühende Linien. Das sind ihre Spuren. Ich folge diesen Spuren, die sie hinterlassen hat, es sind die Leuchtspuren einer glühenden Zigarette. Sie leuchten wie die Linien, die man als Kind mit brennenden Stöcken in die Nacht zeichnet – nur dass die Spuren ihrer Zigarette in der
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