Mr. Joenes wundersame Reise
uns unterhalten, stellen wir manchmal fest, daß zwei von uns den gleichen Gebäudesektor gezeichnet haben und zwar unterschiedlich aus einer unterschiedlichen Erinnerung heraus. Natürlich muß man mit solchen menschlichen Irrtümern 231
rechnen. Was jedoch so verwirrend ist, ist die Tatsache, daß die Beamten beide Versionen annnehmen.
Sie können sich bestimmt vorstellen, was in einem Kartographen vorgeht, wenn er so etwas erfährt.«
»Haben Sie dafür eine plausible Erklärung?« fragte Joenes.
»Nun, zum einen haben auch Kartographen ihren eigenen Stil und ihre eigenen Ausdrucksfor-men, und darin mag schon ein Grund für die Un-terschiedlichkeit der Karten liegen. Zum anderen kann man dem besten Erinnerungsvermögen nicht grenzenlos vertrauen, so daß wir durchaus auch verschiedene Gebäudesektoren gezeichnet haben könnten. Doch meiner Meinung nach reichen solche Erklärungen nicht hin, und in meinen Augen ergibt nur eine einzige einen Sinn.«
»Und die wäre?« fragte Joenes.
»Ich bin davon überzeugt, daß Arbeiter auf Befehl der hohen Beamten ständig damit beschäftigt sind, das Gebäude stellenweise zu verändern. Dies ist die einzige Erklärung, die mir einleuchtet. Bisher habe ich noch keine Spur von solchen Arbei-tern gefunden, aber auch wenn ich sie nicht gesehen habe, glaube ich dennoch an ihre Existenz.
Überlegen Sie doch. Die hohen Beamten sind sehr auf Sicherheit bedacht, und die größtmögliche Sicherheit läßt sich doch dadurch erreichen, daß sich das Gebäude in einem ewigen Wandlungspro-zeß befindet. Außerdem, wenn das Gebäude in sich 232
statisch wäre, dann würde doch ein einziger Plan reichen, statt dessen sind wir unaufhörlich damit beschäftigt, neue Zeichnungen anzufertigen und alte wieder zu revidieren. Schließlich versuchen die hohen Beamten, eine komplexe und stets im Wandel befindliche Welt zu kontrollieren; ebenso wie die Welt muß sich daher das Gebäude verändern. Weitere Büros müssen gebaut, alte für neue Insassen verändert werden; eine Reihe von Zellen muß entfernt und dafür ein Vortragssaal eingebaut werden; ganze Korridore müssen geschlossen werden, um mit neuen Elektroleitungen und sanitären Installationen versehen zu werden. Und so weiter.
Einige dieser Veränderungen sind offensichtlich.
Jedermann kann sie erkennen, nicht nur ein Kartenzeichner. Doch andere Umbauten und Veränderungen werden heimlich vorgenommen oder in Teilen des Gebäudes, welche ich nicht aufsuche, ehe nicht die Arbeiten beendet sind. Dann aber sieht es so aus wie sonst, auch wenn ich irgendwie eine Ahnung habe, daß da ein Unterschied zu früher besteht. Aus diesen Gründen bin ich der Überzeugung, daß das Gebäude stetig verändert wird, wes-halb man sich niemals ein komplettes Wissen über die Struktur aneignen kann.«
»Wenn dieser Ort so unmöglich zu erfassen ist, wie Sie es gerade beschrieben haben«, fragte Joenes, »interessiert mich, wie Sie eigentlich den Weg zurück in Ihr eigenes Büro finden.«
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»Dabei, und ich schäme mich fast, es zuzuge-ben, helfen mir meine Fähigkeiten und Kenntnisse als Kartograph überhaupt nicht. Ich finde mein Büro ebenso wie jeder andere sein Büro findet –
mit Hilfe von etwas, das man durchaus Instinkt nennen könnte. Die anderen Arbeiter wissen das nicht; sie glauben, sie finden ihren Weg mit Hilfe eines Prozesses ihrer Intelligenz, einer Art von Linksherum-rechtsherum-System. Ähnlich wie der Spion glauben sie, sie könnten alles über das Ge-bäude erfahren, wenn sie es nur wollten. Sie würden lachen, könnten Sie hören, welche Behaup-tungen diese Leute über das Gebäude aufstellen, obwohl sie niemals über den Korridor hinaus vorgedrungen sind, in dem ihre Büros liegen. Doch ich, ein Kartenzeichner, wandere während meiner Arbeit durch das gesamte Gebäude. Manchmal sind an Gegenden, die ich bereits durchschritten habe, großräumige Veränderungen vorgenommen worden, und ich erkenne sie nicht wieder. Dann leitet mich etwas, das mit reinem Wissen nicht zu erklären ist, in mein Büro zurück, ebenso wie dieses Etwas auch die Büroarbeiter auf den richtigen Weg bringt.«
»Ich verstehe«, sagte Joenes, obwohl dieser Bericht ihn über die Maßen verwirrte. »Dann wissen Sie also wirklich nicht, was ich tun soll, um das Büro zu finden?«
»Ich weiß es wirklich nicht.«
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»Könnten Sie mir nicht irgendeinen Rat geben, wonach ich Ausschau halten soll oder wie ich meine Suche beginnen soll?«
»Hinsichtlich
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