Mrs Murphy 06: Tödliches Beileid
stimmt’s?«
Rick blieb an der Tür stehen, als Naomis Hand den Knauf berührte. »Ihre Zusammenarbeit mit Sandy klappt gut, nicht? Unter den gegebenen Umständen?«
»Ja.«
»Haben Sie gewusst, dass Sandy an der White Academy, der Schule, an der er gearbeitet hat, bevor er nach St. Elizabeth kam, eine Schülerin geschwängert hat?«
Cooper versetzte ihr den nächsten Schlag. »Roscoe hat es gewusst.«
»Sie beide sind sehr eifrig gewesen.« Sie kniff die Lippen zusammen.
»Wie Sie schon sagten, Mrs Fletcher, wir müssen Verbrecher finden, um unseren Job zu behalten.« Rick deutete ein Lächeln an.
Naomi verzog das Gesicht und schloss die Tür.
60
Mrs Murphy lehnte sich ans Sofakissen. Sie streckte das rechte Hinterbein aus und verharrte so. Dann fuhr sie die Krallen aus und betrachtete ihre Zehen. Was für umwerfend vollkommene Zehen sie hatte. Sie wiederholte den Vorgang mit dem linken Hinterbein. Dann legte sie die Vorderpfoten aneinander, eine aerobische Katzenübung. Befriedigt legte sie sich auf das Kissen und blickte heiter ins Feuer. Im Geiste ging sie die jüngsten Ereignisse durch.
Harry staubte ihre Bücherregale ab, ein langwieriges Unterfangen, weil sie immer wieder ein Buch herausnahm, einige Passagen las und es dann zurückstellte. Draußen fiel leichter Schnee; umso zufriedener war sie, drinnen zu sein.
Tucker schnarchte vor dem Kamin. Pewter, die sich am anderen Ende des Sofas zusammengekugelt hatte, träumte von winzigen Mäusen, die ihr Loblied sangen: »Oh mächtige Pewter, Königin der Katzen.«
»Herr der Fliegen.« Harry zog das alte Taschenbuch heraus. »Musste ich im College lesen, aber ich konnte es nicht ausstehen.« Sie ließ sich vor dem nächsten Regal nieder. »Fielding, den hab ich gern. Austen.« Sie drehte sich zu Mrs Murphy um. »In der Literatur geht es um Sinnlichkeit. Wirklich, Murphy, John Milton ist einer der größten Dichter, aber er langweilt mich zu Tode. Es fällt mir schwer, eine Kunstform zu lieben, die mir ein Programm in den Kopf hämmern will. Ich nehme an, das ist wie mit dem Igel und dem Fuchs.«
»Isaiah Berlin.« Mrs Murphy kannte die berühmte Abhandlung, die Schriftsteller in Igel und Füchse aufteilte; Igel seien auf eine große Idee oder eine Weltsicht fixiert, wogegen Füchse das ganze Territorium durchliefen; Leben hieß Leben ohne vorgegebenes Schema. So sah sie es jedenfalls.
»Ich meine, Murphy, dass Leser Igel oder Füchse sind. Die einen lesen, um sich zu erinnern. Die anderen lesen, um zu vergessen. Manche lesen, um sich herausfordern zu lassen. Andere wollen ihre Vorurteile bestätigt sehen.«
»Warum liest du, Mutter?«, fragte die Katze.
»Ich lese«, sagte Harry, die genau wusste, was ihre Katze sie gefragt hatte, »aus schierem Vergnügen an der Sprache.«
»Ah, ich auch.« Die Tigerkatze schnurrte. Harry konnte kein Buch aufschlagen, ohne dass Mrs Murphy sich auf ihre Schulter oder ihren Schoß setzte.
Pewter las auch manchmal, aber sie bevorzugte Krimis oder Thriller. Pewters Interesse reichte nicht über Genreromane hinaus.
Mrs Murphy fand, die graue Katze könnte ruhig mal ein paar Ernährungsratgeber lesen. Sie streckte sich und ging zu Harry. Sie sprang auf ein Bord, um näher an Harrys Gesicht zu sein. Ihr Blick schweifte über die Buchrücken und suchte ihre Lieblingstitel heraus. Sie hatte mehr Spaß an Biografien als Harry. Sie verharrte bei Michael Powells My Life in the Movies.
Sie blinzelte, sprang vom Regal und puffte Tucker wach. »Komm, Tucker, komm mit.«
»Ich hab’s so gemütlich.«
»Los, mir nach.« Sie flitzte aus der Tierpforte, Tucker hinterdrein.
»Was ist bloß in die gefahren?« Harry hielt die Ilias in der Hand.
Fünfundvierzig Minuten später blieben die beiden Tiere außer Atem bei Bowdens Teich stehen, wo der Camry und die grausigen Überreste noch standen, von Menschen unentdeckt.
»Tucker, du nimmst dir die Ostseite des Teiches vor. Ich die Westseite. Halt Ausschau nach einem Video oder einer Filmdose.«
Die beiden Tiere suchten unter dem Schnee, der anfing, die Erde zu bedecken; aber Umrisse wären noch zu sehen gewesen.
»Nichts«, berichtete Tucker.
»Bei mir auch nicht.«
Ein Knurren ließ ihr die Haare zu Berge stehen.
»Der Rotluchs!« Mrs Murphy schoss über die rutschige Farmstraße und übersprang die Furchen. Tucker rannte wie ein geölter Blitz neben ihr her.
Sie erreichten die gemähte Heuwiese, die weit offen lag, ohne eine Versteckmöglichkeit.
»Er holt uns
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