Mürrische Monster
dass es viel schwerer war, das Mädchen nicht zu mögen, wenn kein anderer dabei war. Sie betrachtete Lilli. Ihre Kleidung war durchnässt, und das normalerweise wild abstehende Haar klebte ihr klitschnass am Kopf, so dass sie aussah wie ein trauriger streunender Hund.
»Wo willst du denn hin?«, fragte Sandy.
»Keine Ahnung. Irgendwohin. Ich habe bisher noch keinen Ort gefunden, an dem ich es länger aushalte. Als ich Nate kennenlernte, dachte ich: ›Wenigstens gibt es noch jemand anderen, der so ist wie ich.‹ Aber er ist dein Freund, stimmt’s?«
Sandy nickte. »Hast du das nicht gewusst?«
»Ich habe nicht gefragt. Ich wollte nicht. Hätte ich aber tun sollen. Tut mir leid.« Lilli sah Sandy prüfend an. »Aber es ist schon in Ordnung. Eure Auren sind extrem unterschiedlich, aber sie ergänzen sich.«
»Wirklich?«
»Ja. Wenn ich es mir genau überlege, dann passen sie trotz aller Unterschiede sogar sehr gut zusammen. So wie Lila und Gelb gut zusammenpassen. Und in bestimmten Momenten verschmelzen sie sogar miteinander.«
»Und was bedeutet das dann?«
»Dass man mit dem anderen herumknutscht.« Lilli grinste und zwinkerte Sandy zu. »Hör mal, ich wusste nicht, dass ihr beiden zusammen seid. Ich meine, zugegeben, ich hätte es wissen sollen, aber ich war so aufgeregt, jemanden kennengelernt zu haben, der so ist wie ich, dass ich gar nicht auf die Idee kam, er könnte eine Freundin haben.«
Nun fasste Sandy einen Entschluss. Sie hatte nichts mehr gegen Lilli. Das impulsive, umherziehende Mädchen war nicht berechnend oder hinterhältig – Lilli ließ sich einfach vom Wind dorthin tragen, wo das Schicksal sie hinführte. Leider führte es einen manchmal zum Freund eines anderen Mädchens oder stellte einem im vollen Lauf ein Bein, so dass man der Länge nach hinschlug. Und Lilli war das genaue Gegenteil von ihr. Sandy plante ihre Tage bis ins letzte Detail und wog jede Entscheidung sorgfältig ab. Genau genommen war sie viel berechnender als das Mädchen auf der anderen Seite des schmiedeeisernen Zauns, und sie hatte kein einziges Mal versucht, nett zu ihr zu sein.
»Weißt du, ich kann es dir gar nicht übelnehmen, dass du Nate interessant gefunden hast«, sagte Sandy. »Er ist ja auch interessant.«
Lilli sah erleichtert aus. »Danke. Ich bin schon so lange allein. Ich brauchte einfach die Nähe zu einem anderen Menschen. Ich bin nämlich nicht wie andere Mädchen. Ich bin ...«
»Besonders?«, sagte Sandy.
»Eigenartig.«
»Einzigartig.«
Lilli merkte, dass sie das Wortgefecht mit Sandy vermutlich nicht gewinnen würde. »Ausgeflippt?«, versuchte sie es noch einmal.
»Ausgeflippt und ziemlich cool«, sagte Sandy.
»Findest du?« Lillis Stirnrunzeln verwandelte sich in ein weiches, hoffnungsvolles Lächeln.
»Ja«, antwortete Sandy. »Manchmal wäre ich gerne genauso locker drauf wie du.«
»Keine Sorge. Du hast schon eine ziemlich entspannte Art, glaub mir.«
»Und ich wette, du hättest manchmal gern ein bisschen mehr Ordnung in deinem Leben, oder?«, sagte Sandy.
»Eigentlich nicht«, entgegnete Lilli.
In diesem Augenblick kam eine dunkle Gestalt die Straße heraufgehumpelt.
»Nate!«, rief Sandy. Sie ließ das Gartentor offen und rannte der Gestalt entgegen. Doch es war nicht Nate. Der Besucher hatte einen röhrenartigen Körper, einen runden Kopf und lange dünne Glieder. Im Halbdunkel sah er kaum wie ein Mensch aus. Es war Calamitous.
»Ah, da ist der bunt angemalte Bus«, sagte er. »Calamitous hat ihn wiedergefunden.« Er schnüffelte in die Luft. »Er ist noch immer leer, aber ganz in der Nähe sind noch viele andere, nicht wahr?« Er wandte sich langsam zu Nates Haus um und folgte seiner Nase.
Lilli lugte hinter Sandy hervor. »Ich schwör dir, der Kerl ist ein Spanner«, flüsterte sie ihr zu.
»Aha!« Calamitous rang die nervösen Hände. »Das andere Weibchen, das, das sie gehütet hat«, sagte er und trat nun vollständig aus dem Schatten heraus. Die Mädchen keuchten auf. Sein Gesicht war zerfleischt, und beim Gehen presste er die Hand gegen die Seite und verbarg damit einen länglichen Gegenstand unter dem Mantel. »Ladet ihr mich ein hereinzukommen? Ja? Nein? Benötigt Calamitous dazu wirklich eure Erlaubnis?«
»Fehlt Ihnen etwas?«, fragte Sandy. »Brauchen Sie einen Arzt?«
»Ach was, nein, nein«, kicherte Calamitous. »Ich habe nur meine letzte Mahlzeit verpasst und verspüre einen ... Mordshunger.« Er taumelte vorwärts, streckte die langgliedrige Hand
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