Mutter des Monats
mit dem Rücken zu ihnen saß, konnte sie sie nicht sehen, sondern musste das Alter am Klang ihrer Stimmen festmachen. Das Thema ihrer Unterhaltung aber kam ihr sofort bekannt vor.
»Und am Ende war es einfach zu viel Stoff …«
Natürlich. Es ging um ihre Kinder. Aber diese Damen waren doch schon viel älter. Vielleicht um die Enkel? Oder die Patenkinder ihrer Kinder, die Nichten und Neffen oder Nachbarn der Enkel? Die Schulprobleme irgendwelcher Kinder wurden hier mit Menschen besprochen, die überhaupt keinen Bezug zu ihnen hatten. Und trotzdem waren alle voll bei der Sache. Keine sprang auf und schimpfte: »Genug, Leute! Ich kenne dieses Mädchen gar nicht. Es interessiert mich nicht, ob man ihr in Leeds einen Platz angeboten hat. Schluss mit diesem ermüdenden Palaver! Erzählt mir lieber, ob eine von euch schon den neuesten McEwan gelesen hat.« Nein, sie waren ganz andächtig. Machten sich ernsthaft Sorgen wegen der Nachholklausur. Waren entzückt über die Eins mit Sternchen. Drückten die Daumen, dass sich das Mädchen von ihrem fiesen Freund trennen möge. Sie lieferten dem Gewäsch mit immer neuen Fragen sogar noch mehr Nahrung. Genau wie Rachels Mutter und ihre Freundin Mary, die sich bis zum Erbrechen mit Gott und der Welt über die bescheuerte Eisprinzessin in Kanada auslassen konnten.
Rachel wollte hier raus und zurück an ihren Schreibtisch. Sie sehnte sich nach kreativer Arbeit, wollte was Wichtiges erschaffen, das sie wieder aufrichten würde. Diese Frauen waren Schmarotzer. Waren sie einen Deut besser als die Leute, auf denen die Politiker in den Nachrichten ständig herumhackten, weil sie auf Staatskosten lebten? Für Rachel war die Sache klar: Sie waren Parasiten, ergötzten sich am Leben, an den Neuigkeiten, den Gefühlen und den Fortschritten anderer. Wenn sie so ein gesteigertes Interesse am Abitur hatten, warum hatten sie es selbst nicht gemacht?
Sah so die Zukunft aus? Würde sie, nachdem sie sich jahrelang fast nur mit den Schulproblemen ihrer Kinder beschäftigt hatte, nahtlos dazu übergehen, über die Schulprobleme anderer Leute Kinder zu reden? Der Rest ihres Lebens lag plötzlich vor ihr wie eine Doppelstunde Französisch am Freitagnachmittag. Sie riss den Mantel von der Stuhllehne. Nichts wie raus hier, auf der Stelle. Ihre Hand steckte schon im Ärmel, als Heather und Deborah mit drei Tassen Kaffee und drei Stück Schokotorte an den Tisch zurückkehrten. Sie zog die Hand wieder heraus und gab sich geschlagen.
»Ach, wie lecker! Danke.« Rachel rührte im Kaffee herum. »Hab aber nicht viel Zeit.«
»Dir ist schon klar«, setzte Heather an, »dass wir um diese Zeit nächstes Jahr wegen der Übergangszeugnisse mitten im Prüfungsstress stecken werden, oder?«
Rachel gab ein ersticktes Röcheln von sich.
»Alles klar, Rachel?« Heathers Blick war ganz besorgt.
Bleib freundlich, dachte Rachel. Ganz freundlich.
»Ja, alles gut. Nur, du weißt schon – Übergangszeugnisse. Dieser ganze …«
»Na, du musst dir wohl keine Sorgen machen.« Heather hatte sich Deborah zugewandt. »Ihre Poppy gehört zu den Klassenbesten!«
»Was ich noch fragen wollte«, fuhr Rachel dazwischen, »wann findet eigentlich die nächste Runde der Aktion Mittagsmenü statt? Das letzte Essen ist schon ein paar Wochen her. Das sind die einzigen vollwertigen Mahlzeiten, die ich zurzeit zu mir nehme. Wenn nicht bald wieder eins stattfindet, verhungere ich womöglich. Aber das ist euch ja völlig egal.« Rachel setzte ihr strahlendstes Lächeln auf, aber Heather konnte ihr nicht ins Gesicht sehen.
»Ähm. Na ja. Bea kocht am Freitag vor den Ferien.«
»Super!«
»Aber, ähm, sie hat gemeint, keine Ahnung, sie will wohl die Anzahl der Gäste einschränken. Also gibt es Einladungen. Du weißt schon, wegen ihrem Job und so.«
Es traf Rachel wie ein Schlag. Also hat sie mich tatsächlich fallen gelassen, dachte sie. Ich war die ganze Zeit eine unter vielen. Beas Beziehungen gestalteten sich kaleidoskopisch: Personen, die bisher im Schatten gestanden hatten, wurden plötzlich ans Licht gezerrt und durften sich als Beas neue Freundinnen im warmen Schein ihrer Aufmerksamkeit sonnen. Bis sie verblüfft plötzlich wieder im Schatten standen und sich fragten, was sie wohl falsch gemacht hatten. Seit Jahren hatte Rachel das beobachtet, sich als Außenstehende aber nie davon betroffen gefühlt, wie eine Sterbliche, die an ihre Unsterblichkeit glaubt, obwohl der Tod sie umgibt. Gut, sie war am längsten auf der
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