Mutti ist die Bestie: Die heimliche Diktatur vieler Mütter (German Edition)
Lateinischen wertfrei »an etwas herangehen«. Ob es sich um den Beginn eines Kontakts oder einen Überfall handelt, ergibt sich erst aus dem Zusammenhang.
Die Ächtung von Aggression gilt auch im übertragenen Sinn: Zumindest in den ersten Grundschulklassen werden keine Noten gegeben. Sonst müssten die armen Kleinen ja damit fertigwerden, dass ein anderer eine bessere Note hat, weil dieser sich mehr angestrengt hat oder sich einfach leichter mit dem Lernen tut. Beim Sport werden Tore nicht gezählt, damit niemand sich als Verlierer fühlen muss. Das große, allgemeine Wohlfühlen wird angestrebt, die Realität unter einer kuscheligen Decke vergraben. Nur: Wo es keine Sieger und Verlierer gibt, gibt es auch keinen Grund, sich anzustrengen.
Zeichen für diesen Trend ist das neue Mediationsgesetz: Zivilstreitigkeiten sollen nach Möglichkeit nicht mehr vor Gericht ausgetragen, sondern bereits im Vorfeld durch ein Mediationsverfahren friedlich beigelegt werden. Wer dennoch einen Zivilprozess anstrengt, muss entweder belegen, dass ein Mediationsverfahren gescheitert ist, oder begründen, warum er gar nicht erst eins angestrengt hat. Miteinander nach einer einvernehmlichen Lösung zu suchen kann manchmal sinnvoll sein – um die Gerichte zu entlasten, aber auch um kleine Streitigkeiten auf das richtige Maß zurückzustutzen. Aber das dauernde Sichvertragen verschleiert auch vieles. Zum Beispiel, wenn dem Streit um den bellenden Nachbarshund in Wirklichkeit weit tiefer sitzende Konflikte zugrunde liegen. Außerdem: In manchen Fällen hat wirklich einfach eine Partei recht und die andere unrecht. Das Mediationsgesetz kann Menschen entmutigen, sich weiterhin energisch für ihre Belange einzusetzen.
Die »gewaltfreie Gesellschaft«, für die die 68er Steine geworfen haben, ist anscheinend nah dran, Wirklichkeit zu werden. Wenn es aber schon so weit ist, dass Leistungssport, Kindertoben und harmlose Rangeleien suspekt sind, dann läuft etwas ganz gewaltig schief: Es gibt keine Möglichkeit mehr, sich einzuordnen. Ohne Ordnung gibt es aber auch keine Klarheit und Eindeutigkeit.
Sichtbare Aggression wird, wo immer möglich, ausgeblendet. Natürlich gibt es sie, aber sie ist geächtet. Und das ist gut so. Doch auch harmlose, spielerische Aggressivität, bei der Kinder im Spaß Grenzen austesten, wird sofort unterdrückt. Zum Beispiel: Die Kinder toben und schreien mit Papa. Ich besiege dich, du besiegst mich. Lachend lässt sich der Papa zu Boden zerren; die sechsjährige Tochter ist stolz wie Oskar, dass ihr das gelungen ist, und kitzelt ihn nach Kräften durch. Dann ruft die Mutti: »Könnt ihr nicht mit der Toberei aufhören? Spielt lieber was Schönes miteinander!« Oder: Im Sandkasten streiten sich zwei Kinder um ein Spielzeug. Anstatt die Kinder ihren Kampf austragen zu lassen, greifen die Mütter sofort ein: »Nicht hauen, Luisa! Gib dem Lars doch auch mal das Schäufelchen.«
Unisono wird gefordert: »Vertragt euch endlich!« Konflikte werden übertüncht, anstatt Kinder unterscheiden lernen zu lassen: Wofür streite ich gerade, wofür setze ich mich ein? Lohnt das Ziel den Kampf? Sind die Mittel angemessen, die ich nutze, und wie kann ich mit möglichst wenig Kollateralschaden meinen Standpunkt vertreten?
Doch ohne Reibung gibt es keinen Grip und kein Standing. Reibungsfrei ist Glatteis – da gibt es kein Vorwärtskommen, weil man sich nirgends abstoßen kann. Ohne Konflikte ist es unmöglich zu wissen, wo man steht. Ohne Abgrenzung gibt es keine Grenzen. Und das hat die beschriebenen Folgen.
Doch das viel größere Problem ist: Die unterschwellige Aggression ist ja noch da. Konflikte werden nicht gelöst, indem man sie totschweigt. Sie tauchen nur in den Untergrund ab und werden indirekt ausgetragen. Anstelle der Kämpfe Mann gegen Mann gibt es jetzt eben Jago, der Othello so manipuliert, dass er seine Desdemona umbringt.
Verlierer in dieser Entwicklung sind die Väter, die sonst immer mit ihren Kindern herumgetobt haben. Jetzt, wo jede offene Form von Aggressivität verpönt ist, dürfen sie das nicht mehr. Heimliche Sieger dieser Entwicklung sind die Muttis.
Der Richter und sein Henker
Dass es bei Aggressivität und der moralischen Bewertung von Aggression einen deutlichen Unterschied zwischen den Geschlechtern gibt, ist bekannt. Der Soziologe Dieter Otten berichtet von einem Ranking, das am Soziologischen Institut der Osnabrücker Universität erstellt wurde. Die Testpersonen mussten sich entscheiden,
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