Mutti packt aus
können wir über alles reden, und um das zu bekräftigen, habe ich mich zum Schein bereit erklärt, mal ’ne Runde Halo mitzuzocken, bevor ich es endgültig verbiete. Man kann es Modernisierungsverweige rung nennen, aber ich will keinen Teenager zu Hause hocken haben, der sich bei World of Warcraft inspiriert und zum Amokläufer weiterbildet. Recherchieren kann man auch in Bibliotheken, Chatten geht auch life, sag ich immer und halte mein Gesicht in den digitalen Wind, der mir von allen Seiten entgegenschlägt. »Hausaufgaben können Lehrer auch an die Tafel schreiben, anstatt sie auf der Schulwebsite zu posten!« Dabei ignoriere ich hochmütig das mitleidige Kopfschütteln meiner minderjährigen Mitbewohner.
»Schön gespielt gestern?«, frage ich listig am nächsten Morgen. Er verdreht die Augen und schüttelt den Kopf. Mampft sein Müsli. »Muss los!«, brummt er und schlurft zur Tür. Kaum ist sie zugeknallt, hechte ich zum Computer. Das wollen wir doch mal sehen! Ballerspiele, so aufgeklärt bin ich, hinterlassen digitale Spuren in einem Arbeitsgerät. Und wenn das so ist, finde ich sie.
Auf dem Desktop suche ich zuerst und finde schnell eine neue Datei. Ein Klick und – es verschlägt mir den Atem. Fotos zeigen Haut, die bedeckt ist mit schwachrosa gefärbten Flecken, auf denen sich kupferfarbene Knötchen knubbeln, gerötete, schwärende, nässende Wunden … Iiiiieh. In scharlachroten Buchstaben springt mich der blanke Horror an: Syphilis. Ansteckungswege, Stadien I-IV, Heilung. »Führt unbehandelt zu Demenz und Tod«, steht da und jetzt rekonstruiere ich im Verlauf, auf welchen Seiten mein Junge sich herumgetrieben hat. Wikipedia, klar. Aber dann: NetDoktor.de, DocCheck.de, QualiMedic.de, MedLine.de, apotheken-umschau.
Um Gottes willen! Mir dämmert eine grausige Gewissheit. Eine kalte Hand greift nach meinem Herzen und erstickt jeden Zweifel. Der Junge hat Syphilis! Oder nein, Angst, Syphilis zu haben! Ganz allein trägt er die schwere Bürde dieser bösen Ahnung. Dabei können wir doch über alles reden! Der Schock sitzt tief und hält zwei Tage an. Fast verrückt vor Sorge, mit mühsam gebremster Hysterie beobachte ich ihn ganz genau, fieberhaft lauernd überlege ich, wie ich ihm signalisieren könnte, dass wir doch reden können. Wirkt er nicht blasser als sonst? Isst er etwa weniger? Woher kommen die müden Augen? Ich muss etwas unternehmen. »Wenn dich etwas bedrückt, ich bin immer für dich da!«, gurre ich liebevoll. »Hä?« – »Ach, nur so. Manchmal trägt man etwas völlig unnötigerweise mit sich herum, es wird viel leichter, wenn man es ausspricht!« Leichthin setze ich meine besorgten Schiffchen auf den breiten Strom mütterlich liebender Überlegenheit in allen Lebenslagen. »Jap. Weiß ich.« Raffiniert konstruiere ich Gesprächsanfänge. »Wenn es dir nicht gutginge, woran würde ich das merken?« – »Zuhören, hä?« – »Ja, aber wenn du nicht redest!«, schrillt es aus mir heraus. »Dann ist auch nix!«, stöhnt er. »Aber wenn dich etwas bedrücken würde, das würdest du mir doch sagen?«, taste ich mich unmerklich voran. »Mensch Mama, was willst du eigentlich?«, blafft er ungehalten. »Dass du mit mir redest!«, piepse ich scheu. »Worüber denn?«, fragt er verzweifelt. »Darüber, was mit dir ist!« Ich atme tief durch. »Ich mach mir solche Sorgen!« Er schnauft und höhnt: »Ach, ganz was Neues!« Ich überhöre das und setze noch einmal an. »Du bist in letzter Zeit so blass, so müde, wirkst irgendwie krank …« Er seufzt tief. Ich wittere meine Chance. Gleich habe ich ihn, gleich wird er sich mir offenbaren und mir Gelegenheit geben, ihn zu retten. »Und als ich rein zufällig vorgestern eine neue Datei in meinem Computer gefunden habe, die du da gespeichert hast, da dachte ich …« Meine plötzliche Verlegenheit scheint ihn zu amüsieren. Dann macht er ein ernstes Gesicht. »Also, weißt du, ich habe so komische Flecken auf dem Arm«, flüstert er. »Soll ich sie dir mal zeigen?« Ich springe auf und will ihm den Ärmel hochreißen. Er zieht den Arm weg und murmelt, »Nee, lass mal, vielleicht gehe ich doch besser zum Arzt damit!« – »Um Himmels willen!«, schreie ich panisch. Er gluckst vergnügt. »Ha! Reingefallen!«, prustet er, schlägt sich auf die Stirn, grölt und lässt sich vom Stuhl fallen vor Lachen. »Bingo, Mama! Wir haben in Bio Geschlechtskrankheiten gehabt!«, wiehert er. »Das war für die Schule, habe ich dir doch gesagt! Für das
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