Myron Bolitar 03 - Der Insider
»Und jetzt erzähl mir von Emily.«
Myron erzählte. Eine große Brünette in einem schwarzen, hautengen Hosenanzug ging an ihnen vorbei. Sie hatte die Bücher fest an die Brust gepresst. Julie Newmar in Batman. Win und Myron ließen sie nicht aus den Augen. Miau.
Als Myron fertig war, stellte Win keine Fragen. »Ich habe ein Meeting im Büro«, sagte er beim Aufstehen. »Hast du irgendwelche Einwände?«
Myron schüttelte den Kopf und setzte sich. Win ging. Myron behielt die Tür im Auge. Nach zehn Minuten wurde die Tür geöffnet, und Studenten strömten heraus. Zwei Minuten später folgte Professor Sidney Bowman. Er hatte den gleichen zerzausten, akademischen Bart wie auf dem Foto. Er war kahl, trug seinen verbliebenen Haarkranz aber lächerlich lang. Er trug Jeans, Timberland-Stiefel und ein rotes Flanellhemd. Entweder wollte er wie ein klassischer Arbeiter aussehen oder wie Jerry Brown auf Wahlkampftournee.
Bowman schob seine Brille hoch und ging weiter. Myron wartete, bis er außer Sicht war, und folgte ihm dann. Er hatte keine Eile. Der gute Professor war in der Tat auf dem Weg in sein Büro. Er überquerte den Rasen und verschwand in einem anderen Backsteingebäude. Myron suchte sich eine Bank und ließ sich darauf nieder.
Eine Stunde verging. Myron beobachtete die Studenten und kam sich sehr alt vor. Er hätte eine Zeitung mitbringen sollen. Eine Stunde ohne Lektüre herumzusitzen bedeutete, dass er nachdenken musste. Er entwickelte jede Menge neue Möglichkeiten, verwarf sie jedoch alle wieder. Er wusste, dass er irgendetwas übersah, es zeigte sich zwischendurch kurz in der Ferne, aber immer, wenn er sich darauf konzentrierte, war es schon wieder verschwunden.
Plötzlich fiel ihm ein, dass er heute Gregs Anrufbeantworter noch nicht abgehört hatte. Er nahm sein Handy heraus und wählte die Nummer. Als Gregs Stimme sich meldete, drückte er die 317, den Code, den Greg einprogrammiert hatte. Es war nur eine Nachricht auf dem Band, aber die war ein Hammer.
»Versuchen Sie nicht, uns zu verarschen«, sagte die elektronisch verzerrte Stimme. »Ich hab mit Bolitar gesprochen. Er ist bereit zu zahlen. Ist das wirklich in Ihrem Interesse?«
Ende der Durchsage.
Myron saß ganz still. Er starrte auf eine efeulose Backsteinmauer. Er lauschte ein paar Sekunden lang einem Piepton, ohne sich zu rühren. Was zum ... ?
»... Er ist bereit zu zahlen. Ist das in Ihrem Interesse?«
Myron drückte die Stern-Taste, um die Nachricht ein zweites Mal abzuhören. Dann ein drittes Mal. Er hätte sie sich wohl auch noch ein viertes Mal angehört, wenn Professor Bowman nicht plötzlich in der Tür erschienen wäre.
Bowman blieb stehen, um sich mit zwei Studenten zu unterhalten. Das Gespräch entwickelte sich lebhaft, alle drei legten glühenden akademischen Eifer an den Tag. Ach, die Universität. Sie setzten ihre zweifellos tiefschürfende Debatte fort, während sie den Campus verließen und die Amsterdam Avenue hinuntergingen. Myron steckte das Telefon ein und folgte ihnen in sicherem Abstand. An der 112th Street trennte sich die Gruppe. Die beiden Studenten setzten ihren Weg nach Süden fort. Bowman überquerte die Straße und ging zur Cathedra! o/St. John the Divine.
St. John the Divine war ein riesiger Bau und interessanterweise die größte Kathedrale der Welt, wenn man die Größe des Innenraums zugrunde legte. (Der Petersdom in Rom wird in dieser Statistik nicht als Kathedrale eingestuft, sondern als Basilika). Der Bau glich der Stadt, die ihn beherbergte: Er war beeindruckend, aber heruntergekommen. Hoch aufragende Säulen und herrliche Buntglasfenster wechselten sich ab mit Schildern wie HELMPFLICHT (obwohl sie von 1892 stammte, war St. John the Divine nie fertiggestellt worden) und ZU IHRER EIGENEN SICHERHEIT WIRD DIE KATHEDRALE DURCH WACHPERSONAL UND VIDEOKAMERAS ÜBERWACHT. Löcher in der Granitfassade wurden mit Brettern verdeckt. Zur Linken dieses Wunderwerks der Architektur standen zwei Lagercontainer aus Aluminium, die an den Vorspann von Gomer Pyle erinnerten. Zur Rechten lag der Childreris Sculpture Garden mit dem Friedensbrunnen, einer riesigen Skulptur, die diverse Assoziationen weckte, nur keine friedlichen. Bilder abgetrennter Köpfe und Gliedmaßen, Hummerscheren, Hände, die aus dem Boden ragten, als ob sie der Hölle entfliehen wollten, und ein Mann, der einem Reh den Hals umdrehte, waren ineinander verquirlt und erzeugten eine Aura, die eher an »Dante trifft Goya« gemahnte als an Ruhe und
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